Neues Leben für Stephanie. Lisa Holtzheimer
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Der Ober kam auf Michaels Winken eilig an seinen Tisch. „3 Euro 20, der Herr.“ Michael gab ihm fünf: „Stimmt so.“ Die Dankesworte des alten Kellners hörte er schon gar nicht mehr. Beinahe fluchtartig verließ er das Lokal, lief zielstrebig auf den nächsten Briefkasten zu und warf die Karte ein, bevor er es sich vielleicht doch noch anders überlegen würde. „Gott, bitte lass Katrin die Karte richtig verstehen!“ betete er im Stillen. Dies war sein einziger Halt in dieser Zeit, wenn er auch wusste, dass Gebete keinen Menschen gegen dessen Willen beeinflussen. Aber es half zu wissen, dass er nicht gegen eine Wand reden musste, sondern dass seine Gedanken, Gefühle und Worte gehört und ernst genommen werden.
5
„Guten Morgen!“ Stephanie öffnete die Tür zum Stationszimmer. Eine Kollegin erwiderte ihren Gruß gähnend, während die Nachtschwester die Übergabe vorbereitete. „Wieder fit?“ Stephanie nickte und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Keine außergewöhnlichen Ereignisse in der letzten Nacht, aber sie musste erst einmal über eine Reihe neuer Patienten informiert werden, denn während sie selbst krank im Bett lag, hatte es einen fast vollständigen Wechsel in der Belegung gegeben. Eine halbe Stunde später ging die Nachtschwester müde nach Hause, während Stephanie und zwei Kolleginnen begannen, die Patienten zu wecken.
Stephanie war froh, wieder gesund zu sein und durch die Arbeit unter Menschen zu kommen. Sie nahm sich fest vor, jetzt endlich etwas zu unternehmen, um Leute kennen zu lernen. Sicher wussten ihre zum Teil gleichaltrigen Kollegen Möglichkeiten, wo man zwanglos andere Menschen treffen konnte. In einer ruhigen Minute setzte sie ihren Vorsatz gleich in die Tat um und ging auf Britta, eine etwa gleichaltrige Kollegin, mit der sie sich recht gut verstand, zu. „Britta, ich muss dich mal was fragen. Ich wohne jetzt fast zwei Monate hier, und ich kenne außer euch einfach keinen Menschen hier. Wenn sich das nicht bald ändert, dann halte ich es vermutlich nicht lange hier aus. Hast du nicht eine Idee ...?“ Britta hatte eine: „Klar, komm doch heute Abend einfach mit mir. Wir treffen uns jeden Mittwoch mit ein paar netten Leuten, trinken Tee, essen Kekse, machen Musik und unterhalten uns so nebenbei über interessante Themen aus dem Buch der Bücher.“ „Dem Buch der Bücher??“ „Klar, dem Buch der Bücher – der Bibel.“ Britta grinste breit, aber freundlich. „Ich weiß nicht ...“ Stephanie suchte nach einer Ausrede. So etwas hatte sie sich eigentlich nicht vorgestellt. Auf der anderen Seite – Britta war wirklich eine nette Kollegin, mit der sie sich auch gut verstand. „Da kann ich doch nicht einfach so mit reinkommen. Ihr seid doch bestimmt eine Art geschlossene Gesellschaft“, fiel ihr schließlich ein. Britta musste laut lachen. „Geschlossene Gesellschaft! Das ist gut, das hat noch keiner gesagt!“ prustete sie. „Nein, wenn wir alles sind, DAS sind wir bestimmt nicht. Im Gegenteil. Wir freuen uns über jedes neue Gesicht. Du bist herzlich eingeladen!“
Stephanie gingen die Argumente aus. „Und was seid ihr dann?“ Ihre Neugierde siegte doch über die Skepsis. Britta machte jedenfalls den Eindruck, als würde sie wirklich gerne zu diesem Abend gehen. Und die Einladung klang auch echt und überzeugend. „Wir sind ein Hauskreis.“ „Hauskreis. Aha.“ Stephanie schaute Britta fragend an. Was war das nun schon wieder? „Ja, wir sind ein paar junge Leute aus zwei Gemeinden, sich einmal in der Woche abends treffen, um über das interessanteste aller Bücher zu reden. Aber keine Angst, wir reden auch noch über andere Dinge.“ Der letzte Satz beruhigte Stephanie ein bisschen. „Gemeinden? Meinst du damit Kirchen?“ „Ja, richtig. Freikirchen, um genau zu sein.“ „Hier in Berchtesgaden?“ „Nein, hier gibt es leider noch keine …“ „Wie – hier gibt es keine?“, unterbrach Stephanie. „Hier stehen mindestens zwei Kirchen mitten in der Stadt.“ „Stimmt schon, aber beide sind katholische Kirchen. Die dritte etwas außerhalb ist eine evangelische. Eine Freikirche gibt es hier leider noch nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“
Stephanie war ein bisschen verwirrt und traute sich nicht, noch weiter zu fragen. Britta hingegen machte Nägel mit Köpfen. „Ich hole dich um halb acht zu Hause ab, okay!?“ Stephanie nickte, noch nicht ganz überzeugt, aber auf die Schnelle fiel ihr keine Ausrede ein. Britta merkte ihre Unsicherheit und stieß sie freundschaftlich in die Seite. „Hey, das wird wirklich gut. Da sind lauter liebe, nette Leute – so wie ich“, grinste sie, bevor sie sich das Medikamenten–Tablett schnappte und sich auf Austeilrunde begab.
* * *
Pünktlich um 19.30 Uhr klingelte es an Stephanies Haustür. Sie zog ihre Jacke über und wickelte sich einen Schal um den Hals, schloss die Tür ab und stieg in Brittas Kleinwagen. „Wohin fahren wir eigentlich?“ Das hatte sie heute Morgen in der Verwirrung ganz vergessen zu fragen. „Nach Salzburg.“ „Salzburg? Das ist in Österreich ... „Richtig. Genauer gesagt, nach Anif, das liegt direkt vor der Stadt.“ „Wieso müssen wir so weit fahren, um zu so etwas wie einer Kirche zu kommen?“ „Es ist überhaupt nicht weit. Dichter als Bad Reichenhall zum Beispiel. Ich sagte ja, hier gibt es leider noch keine Freikirche.“ „Ist das irgendein Unterschied – Freikirche und Kirche?“ Stephanie wollte wissen, worauf sie sich eigentlich eingelassen hatte. „Ja und nein“, versuchte Britta zu erklären. „Ja, weil eine Freikirche eben nicht zu den evangelischen oder katholischen Kirchen, also den großen und eher bekannten Kirchen, gehört. Nein, weil es um dieselbe Sache geht.“ Viel schlauer war Stephanie jetzt auch nicht, aber sie entschloss sich, alles einfach auf sich zukommen zu lassen. Ihre Mutter hatte sie früher manchmal vor Sekten gewarnt, die auf Seelenfang gingen. Britta machte allerdings nicht den Eindruck, als ob sie sich von irgendjemandem hatte „fangen“ lassen, sondern sie schien sehr freiwillig in diese Freikirche zu gehen. „Sekte scheidet aus“, entschied Stephanie im Stillen.
Während des Gespräches hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie schon die Grenze hinter sich gelassen hatten. Erst, als Britta den Wagen in einer Nebenstraße parkte, registrierte sie, dass es nun ernst wurde. Sie sah sich um, konnte aber nirgends etwas entdecken, das einer Kirche ähnelte. Dies schien eine reine Wohngegend zu sein. Schon ging Britta zielstrebig auf eins der Häuser zu und öffnete die Gartenpforte. Plötzlich war Stephanie sich ganz sicher, dass sie in dem Kreis nichts verloren hatte. Das war ihr zu privat. „Britta, ich ...“ Britta schien Gedanken lesen zu können. „Nichts da, ich habe dich schon angekündigt.“ Sie schob Stephanie in den Hauseingang, öffnete die Tür, die nicht verschlossen war, und schon standen sie in der Wohnung. Aus dem Wohnzimmer drangen fröhliche Stimmen, und jetzt öffnete sich die Tür, ein neugieriger kleiner Hund beschnupperte die beiden Gäste sofort schwanzwedelnd und ein junger Mann begrüßte die beiden Frauen herzlich. „Hallo, ich bin der Max. Du bist bestimmt Stephanie. Herzlich willkommen!“ „Danke“, murmelte Stephanie nur leise. Ihr war mulmig zumute. Da drin saßen fast 10 völlig fremde Leute, die sich alle kannten – und sie kam als Außenstehende in einen Kreis, von dessen Zielen sie keine Ahnung hatte und bei dessen Themen sie garantiert nicht würde mitreden können.
Es blieb keine Zeit mehr, sich auszumalen, was alles Peinliches passieren könnte, denn im nächsten Moment fand sie sich in einem sehr gemütlich eingerichteten Wohnzimmer wieder, ließ sich von Britta auf das Sofa schieben, nahm dankend eine Tasse Tee entgegen und wartete darauf, dass alle sie anstarren und ihr Fragen stellen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Außer dem einen oder anderen freundlichen „Hallo Stephanie“ passierte erst einmal gar nichts. Die jungen Leute widmeten sich wieder ihren Gesprächen, tranken schweigend Tee oder blätterten in den verschiedensten Büchern. Jemand zupfte leise an einer Gitarre, und eine junge Frau rief ihm irgendetwas zu, woraufhin der Gitarrist eine Melodie intonierte. Langsam konnte Stephanie ein wenig entspannen. Vielleicht war es ja wirklich ganz nett hier. Der erste Eindruck war zumindest schon mal nicht schlecht.
* * *
Es war beinahe 23 Uhr, als Britta und Stephanie ins Auto stiegen. Stephanie schwirrte der Kopf. Der Abend war