Blutige Fäden. Fabian Holting
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»Ich betreibe eine recht gut gehende Boutique in Düsseldorf.«
»Haben Sie Angestellte?«
Sie sah mich verwundert an. »Ja, ich beschäftige insgesamt sechs Mitarbeiterinnen.« Ich nickte nur und glaubte zu wissen, dass es sich um eine Boutique für Damenmode handelte, die vermutlich nicht ganz klein war.
»Falls Sie jetzt denken, jemand könnte meinen Sohn entführt haben, um Lösegeld von mir zu erpressen, muss ich Sie enttäuschen. Wir kommen zwar gut über die Runden, aber wahnsinnig viel wirft die Boutique nicht ab.«
Ich schüttelte mit dem Kopf. »Daran denke ich nicht im Entferntesten, denn dann hätten sich die Entführer längst bei Ihnen gemeldet.«
Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss heute noch zurück nach Düsseldorf.«
»Leben Sie allein?«, fragte ich. Sie lächelte mich an.
»Für eine Partnerschaft habe ich zu wenig Zeit. Außerdem können mir die Männer gestohlen bleiben. Ja, ich lebe allein. Darum müssen Sie mir helfen, meinen Sohn zu finden.«
Damit war soweit alles gesagt. Wir erhoben uns und ich begleitete sie zur Tür. An der Tür stehend, vereinbarten wir noch, dass ich sie jeden Tag gegen achtzehn Uhr anrufe, um ihr den aktuellen Stand meiner Ermittlungen mitzuteilen. Wir verabschiedeten uns. Als ich wieder allein in meinem Büro war, wusste ich nicht, ob ich mit meinem ersten Tag zufrieden sein sollte oder nicht. Der Blick auf das Bündel Hunderteuroscheine auf meinem Schreibtisch vertrieb meine Bedenken ein wenig.
3
Während Frau Kessler vermutlich noch immer auf der Autobahn Richtung Düsseldorf unterwegs war, kurvte ich im Nieselregen auf der Suche nach einem Parkplatz im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel herum. Bevor ich mein Büro verlassen hatte, hatte ich mir das Bündel Geldscheine vorgenommen und es zweimal gezählt. Es waren genau fünftausend Euro und zugleich ein deutlicher Vertrauensbeweis. Grund genug für mich, gleich mit den Ermittlungen zu beginnen. Selbstverständlich musste ich jetzt mehr über Sascha Kesslers Leben hier in Hamburg herausfinden. Vielleicht wusste jemand in seinem Umfeld, sofern er überhaupt eines gehabt hatte, mehr über seinen Verbleib in den letzten drei Wochen. Beginnen wollte ich im Studentenwohnheim. Der Schnellhefter lag neben mir auf dem Beifahrersitz meines Fiat Cinquecento, den mir meine Mutter freundlicherweise vorerst überlassen hatte. Von dem Audi A6, den ich zuvor gefahren hatte, musste ich mich leider trennen, da er mir als Firmenwagen von meinem ehemaligen Chef zur Verfügung gestellt worden war. Der Gedanke an diesen schönen Wagen versetzte mir wieder einen Stich und ich bereute ein weiteres Mal, meinem Triebverhalten die große Chance auf einen erfolgreichen beruflichen Werdegang geopfert zu haben. Ich fand einen Parkplatz, und da mir der Magen knurrte, ging ich in eines dieser Bistros, die als Franchise-Unternehmen überall in der Stadt vertreten waren. Von den fünftausend Euro hatte ich mir fünfhundert eingesteckt. Den verbliebenen Batzen Geldscheine hatte ich in den Küchenschrank zu meinem Ikea-Kaffeeservice gelegt und fragte mich, ob nicht jeder halbwegs gescheite Einbrecher genau dort als Erstes nachsehen würde. Im gut besuchten Bistro schlug mir der übliche Geruch nach überbackenem Käse und angebranntem Weißbrot entgegen. Auf einer gusseisernen Platte dampfte der frisch verstrichene Teig für einen Crêpe. Die feuchte Luft war zum Scheiden und gerne hätte ich die Tür offen stehen lassen. Doch draußen war es noch immer regnerisch und sehr kühl. Es war kurz nach zwei. Bis auf einen Mann in der Uniform des Hamburger Verkehrsverbunds setzte sich das Publikum augenscheinlich aus Schülern und Studenten zusammen. Einem Milieu, dem auch ich bis vor etwa drei Jahren angehört hatte. Ich dachte an lange Kneipennächte, volle Hörsäle, geschwänzte Vorlesungen, ausgedehnte Cafeteriabesuche und hart umkämpfte Standardlehrbücher der Rechtswissenschaften in der Universitätsbibliothek. Alles in allem, an eine schöne, aber bisweilen anstrengende und etwas nervige Zeit in meinem Leben. Da ich noch keine dreißig war und mich nach wie vor leger und sportlich kleidete, war ich davon überzeugt, mich in diesen Kreisen noch immer bewegen zu können, ohne allzu sehr aufzufallen. Ich bestellte ein vegetarisches Baguette bei einer schick beschürzten Blondine, wohl ebenfalls Studentin und dachte kurz darüber nach, dazu ein Glas Weißwein zu trinken. Ich sah mich um. Auf den anderen Tischen standen Limonaden in verschiedenen Farben, große Latte macchiato-Gläser und Cappuccino-Tassen. Daraufhin bestellte ich eine Fritz-Cola. Ich setzte mich und schlug den Schnellhefter auf, den ich natürlich nicht im Auto liegengelassen hatte. Frau Kessler hatte mir vorsorglich auch die Anschrift vom Vater ihres Sohnes in den USA aufgeschrieben. Ich fragte mich, ob sein Vater sich die gleichen Sorgen machte, wie meine Auftraggeberin. Vielleicht sollte ich ihn mal anrufen. Möglicherweise wusste er, wo sein Junge stecken könnte. Ich blätterte um. Sascha studierte also im sechsten Semester Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Marketing. Wenn er so erfolgreich studiert hatte, wie ich annahm, dann konnte er kurz vor dem Bachelor stehen. Sechs Semester, das waren etwa drei Jahre. In meiner Zeit als Jurastudent hätte ich ihm also fast noch auf dem Campus begegnen können. Komischer Gedanke. Und jetzt hatte man mir die Aufgabe übertragen, ihn wiederzufinden. Mein vegetarisches Baguette wurde ausgerufen. Die Fritz-Cola hatte ich bereits selbst aus einem hohen Kühlschrank mit Glastür nehmen dürfen. Ich holte mir mein Baguette vom Tresen. Es lag auf einem großen, von vielen Messern zerfurchten Holzbrett. Der Käse quoll am Rand des Baguettes zu allen Seiten dick heraus. Darunter schimmerten Tomaten- und Gurkenscheiben. An den meisten anderen Tischen wurden Smartphones gequält. Auf alle Fälle musste ich etwas über seinen Studiengang und vor allem seine Kommilitonen in Erfahrung bringen, dachte ich, während ich mein Baguette kritisch betrachtete. Während ich aß, legte ich mir meine Ermittlungsstrategie weiter zurecht.
Es regnete nicht mehr, als ich auf die Straße trat. Die kühle Luft wirkte befreiend nach der stickigen Atmosphäre des Bistros, dessen Geruch jetzt in meiner Kleidung hing und mich noch eine Weile begleiten sollte. Bis zum Studentenwohnheim waren es nur noch ein paar Schritte, sodass ich getrost meinen kleinen Freund stehen lassen konnte. Die Stühle und Tische der Straßencafés, an denen ich vorbeischlenderte, standen gestapelt an der Seite. Das unbeständige Frühlingswetter hatte den Betreibern die Freiluftsaison bisher gründlich verdorben. Alte Bäume säumten die Straße zu beiden Seiten. Aus ihren Kronen fielen dicke Tropfen herab und platschten auf das Trottoir und gelegentlich auch auf meinen Kopf. Das Studentenwohnheim befand sich in einem mehrgeschossigen Altbau, der vor nicht allzu langer Zeit gründlich renoviert worden war. Die Außenanlage konnte nur als halbwegs gepflegt bezeichnet werden und verdeutlichte, dass die Stadt Hamburg klamm war oder aber das Geld lieber in ein großes Gebäude an der Elbe steckte. Vor dem Hauseingang standen zahlreiche Fahrräder kreuz und quer, die an Fahrradständern, Pfählen und einem halbhohen Zaun angeschlossen waren. Diese Stahlrahmenmenagerie wirkte wie ein Kunstwerk. Ich schob die Tür auf. Der Flur war hell. Im Treppenhaus roch es nach überreifen Gemüsegurken und Knoblauchgerichten. Am Treppengeländer und an den Wänden hatten zahlreiche Ein- und Auszüge ihre Spuren hinterlassen. Zwei Studenten aus dem ostasiatischen Raum kamen mir im Treppenhaus entgegen und grinsten freundlich. Ich kannte das Wohnheim. In meiner Anfangszeit als Student hatte ich hier eine Nacht als Alkoholleiche in den Armen einer netten Französin verbracht. Leider war nie mehr daraus geworden. Jede Wohneinheit bestand aus bis zu acht kleinen Studentenzimmern, einer geräumigen Gemeinschaftsküche, zwei Toiletten und einem Badezimmer mit Dusche auf dem Flur. Unten im Keller gab es noch einen Gemeinschaftsraum, und soviel ich noch wusste, mehrere Waschmaschinen. Alles in allem, sehr bescheiden, aber ausreichend. Trotzdem war ich immer froh gewesen, dass ich