Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether

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Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether

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hatte. Würde der Junge alles richtig machen oder das Risiko sogar vermehren? Noch befanden sie sich in sicherer Entfernung. Noch konnten sie fliehen. Aber dann verspielten sie eine ihrer seltenen Chancen. Es war nicht die Zeit, Angst zu haben. Schräger Gesang schreckte Evroul aus seinen Gedanken. Ein Reiter näherte sich vom Sonnenhof her, hing wie ein nasser Sack auf dem Pferderücken, schien so berauscht, dass von ihm keine Gefahr ausging.

      "… die Mägdelein fein …", ein heftiger Schlag beendete den Gesang. Das Pferd blieb stehen. Der Mann lag neben ihm auf dem Boden, kaum dreißig Fuß von Evroul und Gis entfernt. Evroul zog sein kleines Messer aus dem Gürtel und griff mit der anderen Hand den zugespitzten Stock, den er in Ermangelung einer besseren Waffe gefertigt hatte.

      "Bleib hier", zischte er, drückte Gis ins tiefe Gras und schlich sich an den Fremden heran.

      "Komm und halte das Pferd", rief er wenig später mit unterdrückter Stimme. Gis, froh endlich aktiv werden, endlich das Angstgefühl durch Taten unterdrücken zu können, erhob sich aus dem Versteck und ging ruhig auf das Pferd zu, eine nicht allzu große aber gut im Futter stehende braune Stute.

      "Der tut nichts mehr", sagte Evroul und wies auf den verkrümmt liegenden Mann, der sich beim Sturz offenbar das Genick brach und den Hals aufschlitzte. Oder hatte Evroul nachgeholfen, sein Messer die Ader geöffnet, aus der dunkles Blut in das niedergedrückte Gras rann? Gis schauderte, als er sah, mit welcher Gleichgültigkeit Evroul den Toten untersuchte, seinen Dolch, seinen Gürtel, gar sein Hemd nahm.

      "Die Stiefel sind dein." Als spräche er über das Wetter, so ruhig klang Evrouls Stimme, während sich Gis Magen krampfhaft zusammenzog, den fehlenden Inhalt gern in weitem Bogen verbreitet hätte. Nicht töten, die Worte saßen tief in seinem Inneren.

      "Bitte", presste Gis durch die geschlossenen Zähne, worauf ihn Evroul fragend ansah.

      "Gib mir auch den Dolch", setzte Gis entschlossen hinzu, ohne den Gesichtsausdruck seines Begleiters zu beachten. Er nahm die Waffe aus Evrouls Hand, dachte an alles, was ihm angetan wurde und an Kaya, die stolz auf ihn sein sollte. Dann rammte er den scharfen Stahl tief in die Brust des Fremden.

      "Wir müssen sicher sein, dass er uns nicht verfolgt", sagte er dabei und sein Trotz, seine Entschlossenheit, sein Kampfeswille übertönte das Klagen, welches Adalbert dereinst in ihn gepflanzt hatte.

      "Aus dir wird ein Krieger." Evroul wusste nicht, was er von Gis Aktion halten sollte, kannte er doch nicht die inneren Ängste des Jungen, sah er nur die vordergründige Leichtigkeit, mit welcher dieser zu töten wusste. Und noch etwas sah er. Gis verließ sich nicht auf den Schein, suchte vielmehr Sicherheit, absolute Gewissheit, war ihm in diesem Punkt so überaus ähnlich. Auch er hatte sich nicht darauf verlassen, dass des Reiters Genick zersplittert, sein Lebenslicht wirklich ausgeblasen war, hatte ihm vorsorglich die schlagende Ader des Halses eröffnet, ein Umstand, den er vor Gis lieber verbergen wollte, wusste er doch nicht, wie der trotz aller Schicksalsschläge umsorgt aufgewachsene Junge darauf reagieren würde. Nun wusste er es. Er erschrak über dieses Wissen, und er war gleichzeitig froh.

      "Binde das Pferd zu Alitiksok. Es ist Zeit, unser Werk zu vollenden."

      Gis hatte sich überwunden, hatte getötet, hatte dem Toten sogar die Stiefel ausgezogen. Er band sie auf Alitiksoks Rücken. An den Füßen wären sie nur hinderlich, falls er rasch davonlaufen musste.

      Noch immer hörten sie Gegröle, aber es kam nur noch aus wenigen Kehlen. Die Musik war längst verstummt. Die Mehrzahl der Feierenden lag schlafend auf ihrem Lager oder irgendwo auf dem Festplatz, wenn sie es nicht bis in ihre Hütten geschafft hatten. Evroul fragte sich zwar noch immer, warum der Dörfler, für einen solchen hielt er den Toten, davongeritten war, ob ihm gar jemand folgen würde. Doch als dies nicht geschah, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Auf dem Bauch kriechend, jede Deckung ausnutzend, immer wieder in die Dunkelheit spähend, kamen sie langsam aber stetig voran. Bald konnten sie den Festplatz übersehen. Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen beim Geruch der unverzehrten Speisen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich die Taschen vollzustopfen und zu verschwinden. Evrouls Plan sah jedoch anders aus. Er wollte, dass sie sich selbst versorgen konnten. Dazu gehörten Waffen, am besten Bögen und Pfeile.

      "Siehst du das lange Haus?", raunte er Gis zu. Dieser antwortete mit einem Nicken.

      "Bei meiner Betteltour konnte ich einen Blick hineinwerfen. Du findest dort gut gemachte Bögen und auch einige Pfeile." Ein lautes Rufen unterbrach Evroul.

      "Liebster", schrie eine verzweifelte weibliche Stimme.

      "Kopf runter." Evroul hätte das nicht sagen müssen. Gis schmiegte sich bereits flach an die Erde. Sein Herz klopfte wie wild. Gleich entdecken sie uns, fürchtete er. Auch Evroul war zusammengezuckt, erinnerte sich nur zu gut daran, wie knapp er den Bewohnern des Sonnenhofs entkam. Minutenlang wagten die beiden Diebe kaum zu atmen. Mehr als diesen einen Ruf vernahmen sie allerdings nicht.

      "Jetzt oder nie", sagte Evroul.

      "Nur Bögen und Pfeile", setzte er hinzu. Gis umklammerte den Dolch und kroch los. Du sollst stolz auf mich sein, sagte er in Gedanken und glaubte Kayas Antwort zu hören. Ich bin stolz auf dich, meinte er zu vernehmen.

      Gis erreichte das angegebene Haus. Bis zu Evroul waren es nur ein paar Dutzend Fuß. Im schnellen Schritt hätte er die Strecke in einem Augenblick bewältigt. Gis schien es allerdings, als sei er schon ewig unterwegs. Evroul winkte ihm, was wohl heißen sollte, beeile dich. Noch einmal lauschte Gis. Lautes Schnarchen drang aus dem stabil gebauten Haus. Die Tür stand offen.

      "Jetzt oder nie", wiederholte er Evrouls Worte, richtete sich neben den grob behauenen Stämmen, aus denen die Wände gezimmert waren, auf und drückte sich ins Innere. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er in die Dunkelheit. Ein wohl noch sehr junger Mann lag da. Sein Arm hing über eine bemalte Bank. Aus seinem Munde kamen die Schnarchlaute. Und über seinem Kopf, Gis vermochte das Glück kaum zu fassen, hingen drei Bögen nebst Köcher und Pfeilen. Ganz langsam, ganz leise tastete sich Gis vorwärts, fühlte vorsichtig mit den Zehen, bevor er den Fuß aufsetzte. Der Boden bestand aus trockener Erde. Plötzlich stieß Gis gegen etwas Weiches, gegen das unnatürlich abgestreckte Bein des Schlafenden, dem der Alkohol jedes Schmerzgefühl raubte. Vor Schreck ließ Gis den Dolch fallen, erstarrte zur Salzsäule, konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Die im Hause untergebrachten Tiere wurden unruhig. Instinktiv, jedenfalls nicht vom freien Willen gesteuert, stieg Gis über den noch immer Schlafenden, griff sich zwei der Bögen und einen gut gefüllten Köcher und verschwand aus der beklemmenden Enge, als die er das Innere des Hauses empfand. Runter mit dir, deutete Evrouls Armbewegung an. Gis ließ sich fallen. Ohne diesen Hinweis wäre er einfach losgelaufen. So robbte er, so schnell er konnte, in Richtung seines Lehrers. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, fürchtete er doch jeden Moment die Entdeckung. Doch es geschah nichts.

      "Deckung", raunte Evroul. In diesem Moment bemerkte auch Gis, dass sich jemand von einem der mit zerborstenen Krügen übersäten Tische erhob und in seine Richtung torkelte. Der Dolch, wo ist der Dolch, fragte er sich mit rasch wachsender Unruhe. Er musste ihn verloren haben. Viel zu spät bemerkte Gis seinen Fehler. Er wollte schon aufspringen, dem Trunkenen die Kehle zudrücken, bevor dieser das mit der seinen tat, da fiel der Mann der Länge nach hin, blieb fast vor seinen Füßen liegen.

      "Weiter", rief Evroul mit unterdrückter Stimme. Gis hingegen handelte, wie von einer fremden Macht getrieben, griff dem vor ihm Liegenden an den Gürtel, ertastete dort einen Dolch mit lederner Scheide, zog diesen, durchtrennte den Gürtel und nahm Scheide und Dolch an sich. Er wusste selbst nicht, wie er das alles schaffte, wusste nicht einmal, wie er auf den Gedanken kam, so zu handeln. Er hatte an Kaya gedacht. Sie lenkte seine Hand. Nie wurde ihm so klar wie in diesem Moment, dass sie eine Hexe war, dass er sich mit dunkelsten Mächten einließ.

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