Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether

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Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether

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      "Erschlagt ihn."

      "Er bringt Unheil über uns."

      "Einem Toten den Tod."

      Gis verstummte. Alitiksok verlangsamte ihren Schritt. Eine wilde Horde jagte, vom Horizont kommend und auf dem abgeernteten Feld große Staubwolken aufwirbelnd, direkt auf ihn zu. Sie trugen Gabeln und Spieße, schienen bereit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Gis verstand nicht, warum sie es auf ihn abgesehen hatten. Er verstand nur, dass sich der rasche Tod näherte. Hatten ihn die Götter erhört? Er zögerte zu fliehen. Die Götter hatten entschieden. Er sollte ihren Richterspruch annehmen. Doch es gelang ihm nicht, in Demutshaltung zu verharren. Sein Körper wollte leben. Er streckte seinen Hals, um in die Gesichter der Angreifer sehen zu können. Da erst erkannte er, dass nicht er, dass ein in raschem Schritt Hinkender, ein in langen groben Stoff Gekleideter, das offensichtliche Ziel der aufgebrachten Menge war. Er hatte solche Kleidung noch nie gesehen, gehört hingegen hatte er schon davon. Es war ein Aussätziger, der da um sein Leben rannte. Als dieser den Mantel abstreifte und auf seine Verfolger warf und die Getroffenen wie vom Schlag gerührt stehen blieben, wusste Gis, seine Vermutung traf zu. Er beeilte sich, Alitiksok zu wenden, der schrecklichen Szene zu entfliehen, hatte jedoch nicht mit Kraft und Schnelligkeit des Aussätzigen gerechnet, der sich just in dem Moment hinter ihm auf den Pferderücken warf, in dem die schwarze Stute lossprang. Wie das lebendig gewordene Böse klammerte sich der Mann an Gis, drückte er seine nackte Brust an dessen bloßen Rücken, jagte er ihm einen Schauer nach dem anderen über selbigen, schlimmste Gedanken von Verwesung bei lebendigem Leibe durchs Hirn. Gis hatte noch nie einen Aussätzigen gesehen. Jedoch erzählten die Alten von einem Krieger aus dem Südlande, der seine verkrüppelten Hände und Füße mit Lappen verhüllte, seinen ausgemergelten Körper in einem langen Mantel versteckte, eine hölzerne Klapper schlagend, um Wasser und Brot bat. Zum Dank für die Hilfe berichtete er, dass die Krankheit durch Berührung weitergegeben wurde, dass sie sich ja in Acht nehmen sollten, ihn oder seinesgleichen anzufassen. Wenig später starb der Mann, die Geschichte lebte jedoch weiter. War ein Kind unartig, drohte man oft mit dem Krüppel. Der Aussätzige wird dich holen, hieß es dann. All das ging Gis durch den Kopf, während Alitiksok einen guten Vorsprung herauslief, die Verfolger bald abschüttelte.

      Nach etwa einer Stunde scharfen Rittes brachte der Fremde die Stute zum Stehen. Er konnte offenbar gut mit Pferden umgehen, stellte Gis fest. Das nahm ihm nicht die Angst, weckte aber so etwas wie Hochachtung.

      "Ich steige jetzt ab", sagte der Fremde und setzte dies sogleich in die Tat um. Da stand er nun, nackt bis zum Gürtel, Hände und Füße mit grauem Stoff umwickelt. Prüfend lag sein Blick auf Gis, der so gern ebenfalls vom Pferd gestiegen, sich so gern in einem Bach oder Tümpel, wenigstens in einer Pfütze gewälzt, den bösen Atem von seinem Körper gewaschen hätte. Sollte er fliehen, den Mann seinem Schicksal überlassend die eigene Haut retten? Oder trug er den Aussatz bereits in sich? Schließlich hatte der Kranke ihn eng berührt. Gis blieb. Krankheit hin oder her. Wenn er nicht bald die Fesseln loswürde, müsste er ohnehin sterben. So sah er voller Erwartung zu, wie der Fremde die Hüllen von Händen und Füßen entfernte. Sie waren nicht so entstellt, wie Gis fürchtete, sahen eher ganz normal aus. Hatte der Kerl sich nur verkleidet? Jagte er Gis nur einen Schrecken ein?

      "Dachtest wohl, ich sehe aus wie ein Gespenst? Hast wohl noch nie einen mit der Miselsucht gesehen? Bist wohl schlechter dran als ich, aber hast mir den Hals gerettet." Der Fremde spuckte aus, griff nach seinem Gürtel, zog ein kleines Messer hervor und durchtrennte Gis Fußfessel, worauf dieser völlig erschöpft vom Pferd rutschte. Wie ein hilfloses Bündel lag er auf dem duftenden Waldboden, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Dankbarkeit. Zögerlich streckte er die Hände aus. Ein Schauer lief über seinen Körper, als der Fremde ihn berührte.

      "Halt still", sagte dieser ganz ruhig, "oder soll ich dir eine Hand abschneiden?"

      Natürlich sollte er ihm nicht die Hand abschneiden. Gis schüttelte den Kopf und hielt still.

      "Gute Arbeit", brummte der Fremde. "Hätte dich noch einige Zeit gekostet, die loszuwerden. Hätte durchaus zu spät sein können. Gut, dass du mich getroffen hast."

      Langsam, sehr langsam kehrte Leben in Gis Finger zurück. Vorsichtig bewegte er seine Zehen, drehte er die Füße hin und her. Sie sahen schrecklich geschwollen aus. War er doch schon von der Krankheit befallen? Und wie nannte der Fremde die Krankheit? Miselsucht? Aussatz war es, schrecklicher Aussatz, die Strafe für ungehorsame Kinder. Gis konnte sich nicht aus seiner Tradition lösen. Es dauerte jedoch nicht allzu lang, da schwollen seine Füße bereits ab, konnte er seine Hände bewegen, gar einigermaßen sicher auf den Beinen stehen. Die Angst schwand ein wenig. Er sah den Fremden an. Dessen Bewegungen wirkten unsicher, so als habe er kein rechtes Gefühl im Körper.

      "Lass uns eine Bleibe für die Nacht bauen", beendete der Mann das Schweigen. "Und berühre mich nicht, dann musst du dich auch nicht vor mir fürchten."

      "Aber …"

      "Ich habe dich berührt." Der Fremde schnitt Gis das Wort ab, wusste er doch selbst am besten, in welche Gefahr er den Jungen brachte. Er tat es aus purer Todesangst. Die Dörfler hätten ihn aufgespießt und verbrannt. Und die kurze Zeit, in der er hinter dem Jungen saß, würde kaum ausreichen, das böse Gas in diesen strömen zu lassen.

      "Du musst dennoch keine Angst haben. Ich sah viele, die an Aussatz, wie ihr es nennt, litten. Die Krankheit geht nicht so schnell von einem zum anderen." Der Fremde atmete tief. Hätte er damals gewusst, was er später lernte, er könnte noch gesund sein. Für ihn kam das Wissen zu spät. Wäre er seinem Handwerk treu geblieben, er könnte noch immer völlig gesund sein. Was musste er auch den Bogenbau aufgeben und sich der Heilkunst zuwenden? Doch sein altes Handwerk brachte anderen den Tod. Als Heiler konnte er das Leben anderer bewahren. Einmal würde er dem Jungen alles erzählen. Zunächst hieß es, ein Versteck zu finden. Sie waren beide Ausgestoßene. Oder warum sonst hatte man den Kleinen auf das Pferd gebunden? Der Junge war sein Glück, konnte das tun, was er nicht mehr vermochte, konnte das lernen, was er nicht mit ins Grab nehmen wollte.

      "Ich heiße übrigens Evroul."

      Gis schwieg. Traten nicht bereits Beulen auf seinem Rücken hervor? Vorsichtig tastete er über die schweißnasse Haut. Alles wie sonst, stellte er fest. Wesentliche Erleichterung brachte ihm das nicht.

      "Nun kennst du meinen Namen. Sag mir doch auch deinen." Die Stimme des Mannes klang so vertrauensvoll. Und Gis wollte ihm so gern glauben, wollte so gern bei ihm statt allein bleiben. Aber sagte er nicht auch, man solle ihn nicht berühren? Und sagten nicht die Alten, der Aussatz geht durch den Atem über? Und ging nicht der Atem auch über das Wasser, über das Brot? Konnte man wirklich mit einem Miselsüchtigen, wie der Fremde sich selbst bezeichnete, zusammenleben, ohne selbst zum Krüppel zu werden? Aber was war die Alternative? Es gab keine. Wie sollte ein sächsischer Junge, noch dazu mit einem Brandmal auf der Brust, im fremden Lande überleben, in einem Lande, dass er nie zuvor betrat, dessen Bewohner ihm fremd und sicher feindlich gesinnt waren.

      "Gis heiße ich. Mein Name ist Gis", sagte er leise.

      "Ein sächsischer Name", stellte Evroul fest. "Bei uns würde das Pfeil heißen. Ein gefährlicher Name."

      Langsam meinte Evroul zu begreifen, ein Sachsenjunge mit einem friesischen Brandmal auf der Brust, von einem edlen Pferd in fränkische Gefilde getragen, halbnackt, gefesselt. Er wird wohl gestohlen haben, sollte wohl von dem Tier zum Kerker gebracht werden, war wohl irgendwie entkommen. Evroul untersuchte das Pferd, fand Herzog Kuberts Zeichen, zwar überdeckt von einem neuen Brandmal, für den Kundigen jedoch noch immer erkennbar. Er fand seine Vermutung bestätigt.

      "Bleib bei mir. Dein Risiko ist dann geringer", sagte er mit seiner ruhigen, tiefen, Vertrauen erweckenden Stimme.

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