Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether

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Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether

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Vielleicht war es gar nicht der Atem, vielleicht musste man wirklich die Körper längere Zeit eng zusammenbringen, um die Krankheit weiterzugeben. Ihre Körper waren eng zusammen. Das ließ sich allerdings nicht mehr ändern. Und die Zeit war kurz. Für die Zukunft wollte Gis Evrouls Worte allerdings streng beachten. Dann sollte er die Gefahr beherrschen. Außerdem, Leben hieß Risiko. Und sagte Evroul nicht selbst, Gis ist ein gefährlicher Name? Gis steht für Freiheit. Das ist gefährlich. Er erfuhr es zur Genüge. Er würde bei dem Fremden bleiben, bekräftigte Gis seinen Entschluss. Er besaß ja noch seine Festkleidung. Die edlen Stücke würden seinen Körper schützend umhüllen. Er schnürte sein Bündel auf.

      "Ich will nur meine Kleider anlegen, dann komme ich mit dir", sagte er zu Evroul.

      "Wasch dich zuvor", antwortete dieser mit einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. "Und die Stiefel gib mir. Du bist gesund, kannst barfuß gehen. Ich laufe mit geschützten Füßen schneller. Das nützt uns beiden."

      Unter anderen Umständen hätte sich Gis mit allen Kräften gewehrt, seinen kostbaren Besitz bis zum letzten verteidigt. Evroul jedoch schien magische Kräfte zu besitzen, konnte offenbar Gis Willen kontrollieren, ihn veranlassen, den Anweisungen ohne Widerspruch zu folgen.

      "Erkläre ich dir alles später." Evroul dehnte die Stiefel kräftig und war zum ersten Male in seinem Leben froh, kleinwüchsig zu sein. Das weiche Leder gab problemlos nach. Die für ein Kind gefertigte Fußkleidung passte ihm hervorragend, würde ihn weit besser tragen als die schäbigen Lappen, in die er sich bisher hüllen musste. Er war ein Wissender. Die größte Gefahr seiner Krankheit war das fehlende Gefühl. Er hätte über glühende Kohle, über Dornen und Stacheln gehen können, ohne es zu bemerken. Verletzt hätte er sich wie jeder andere. Sein Wissen bewahrte ihn bisher davor, als Krüppel zu enden. Die Füße gut geschützt, schritt er rasch aus. Gis konnte ihm kaum folgen, befolgte hingegen seine Anweisungen, ließ die Kleider als Bündel auf Alitiksoks Rücken. Das Pferd hatte sich gut erholt. Er würde es besonders verwöhnen. Ohne die Schwarze wäre er vielleicht schon tot, wären sie beide gestorben, Evroul und er. Die Zukunft erschien Gis auf einmal viel heller. Er besaß diese tolle Stute. Er fand diesen tollen Beschützer und Lehrer. Er konnte es noch nicht ganz glauben, dass die Gefahr vorüber, er nicht selbst zum Krüppel verdammt war. Er konnte nicht vergessen, dass er sich wieder auf der Flucht befand. Er konnte nicht völlig verwinden, dass er ein zweites Mal versagt, seine Sippe und Kaya im Stich gelassen hatte. Doch er sah wieder ein Licht. Die Hoffnung kehrte zurück. Die Götter ließen ihn nicht im Stich. Es musste ihr Wille sein. Sie prüften ihn. Er musste stark werden, musste frei bleiben. Die Götter sind mit den Starken. Die Götter lieben die Freiheit. Gis wusste das. Gis glaubte an Saxnots Beistand. Wer sonst war in der Lage, einen Sachsenjungen aus allen Gefahren zu retten. Dieses Wissen wirkte beruhigend.

      Die Abenddämmerung, das tiefe, vom Horizont zum Zenit immer dunkler werdende Blau des Himmels an welches die untergehende Sonne kräftige rote Streifen zauberte, setzte das Zeichen zur Rast. Evroul kannte die Gegend, wusste von einem geeigneten Platz, der von Dickicht geschützt, schwer einsehbar und dennoch ausreichend zugänglich war, in dessen Nähe der Wald reiche Frucht bot, sich Gras für das Pferd und Wasser für sie alle fanden. Während er eine Schlafstatt aus Zweigen und trockenem Gras baute, diese mit einem Blätterdach versah und mit einem angespitzten Stock eine Mulde für ein kleines Feuer aushob, reinigte sich Gis im klaren Wasser, sammelte er im letzten Licht Früchte und Wurzeln, ein zwar karges, doch in Anbetracht des Hungers köstliches Mal.

      "Setz dich zu mir und lass uns deine Ernte munden", sagte Evroul zu seinem jungen Begleiter. Doch Gis musste noch ein Versprechen einlösen, Alitiksoks Fell mit Heu abreiben, welches er von seinem Lager nahm. Erst als diese Arbeit erledigt war, kauerte er sich neben Evroul, seinen neuen Freund, peinlich auf Abstand zu dessen Körper achtend, während er ihm im Geiste schon näher kam. Schweigend kauten sie, fütterten ihre knurrenden Mägen mit dem, was der Wald ihnen bot, hingen ihren Gedanken nach und spannen Pläne für die Zukunft. Evroul kannte dieses unstete Leben. Seit er vor langer Zeit aus dem Lande der Langobarden zurückkehrte, krank, verstoßen, ohne Dank, ohne Lohn, schlug er sich mit Diebstahl und Bettelei durch, rannte er auf gefühllosen Füßen davon, trug er mit gefühllosen Händen zusammen, was er tragen konnte. Manchmal wünschte er sich den Tod. Doch dann siegte sein Lebenswille. Und nun hatte er Verantwortung für diesen Jungen übernommen. Und er hatte in ihm jemanden gefunden, der seine Defizite ausgleichen konnte. Auf einer bitteren Wurzel kauend griff er bereits nach den süßen Beeren. So ist das Leben, mal bitter, mal süß, dachte er. So war es, so wird es bleiben. Da ändert kein Gott etwas, auch nicht viele Götter. Er hatte sie alle kennengelernt, war durch den Norden, den Osten, den Süden gezogen. Er ging mit dem Heer seines Königs, war der berühmteste Bogenmacher von allen, schuf Werkzeuge zum Töten, treffsicherer, effektiver, mithin tödlicher als die bis dahin üblichen. Er sah das Leid, doch er wollte es nicht sehen. Im Lande der Langobarden zerschmetterten seine Leute Kindern, denen die Eltern die heilige Taufe versagten, die dunkelhaarigen Schädel auf großen Steinen. Seine Bögen hatten geholfen, den Widerstand zu brechen, hatten seinem fränkischen Volke den Weg ins Südland geöffnet. Doch wofür, für einen abstrakten Gott, getrieben von einem heilig genannten Geist? Es dauerte lange, bis er sich dem Dienst verweigerte. Er war kein Held, suchte lange nach einer Gelegenheit zum Ausstieg. Er fand sie in einem Lager Aussätziger. Er hatte nie von dieser Krankheit gehört, die unter den Langobarden weit verbreitet war. Er wusste auch nicht, dass sie auf andere übergeht, dass auch fränkische Kämpfer von ihr befallen werden können. Er sah die Möglichkeit, durch Krankendienst dem Kriegsdienst zu entkommen. Einmal in Kontakt mit den Ausgestoßenen wurde er von den Kameraden gemieden. Böser Atem konnte übergehen, Speise und Trank vergiften, die Strafe Gottes auf andere weitertragen. Und da ein jeder wusste, wie oft er Gottes Wort missachtete, nicht dem Herrn Jesus folgte, sondern Gewinnsucht und Wollust frönte, fürchtete sich ein jeder vor dieser schrecklichen Geisel. Evroul hingegen sammelte Berichte, beobachtete scharf, verstand irgendwann, dass es schon intensiven Körperkontakts bedurfte, um die Krankheit an den Nächsten weiterzugeben. Die Langobarden lehrten es ihn und machten ihn zu einem hervorragenden Pfleger auch der eigenen Leute. Er konnte sie nicht heilen, konnte ihnen jedoch helfen, als er verstand, dass die schrecklichen Entstellungen nicht durch böse Gase, nicht durch falsche Körpersäfte, sondern allein durch fehlendes Gefühl und damit verbundene Verletzungen entstanden.

      "Achtet auf eure Hände. Schützt eure Füße", gab er seinen Schützlingen mit auf den Weg, versuchte er Nicola täglich neu beizubringen. Doch sie war noch so jung, war noch so voller Freiheitsdrang, prahlte damit, über glühende Kohlen laufen, ein erhitztes Messer mit bloßen Händen aus dem Feuer nehmen zu können. Evroul musste alles verwerfen, was er lernte, konnte nicht von dem wundervollen Weibe lassen, musste bei ihr liegen, nächtelang, wochenlang, musste sehen, wie er sie nicht retten, dem Würgegriff der Schwindsucht nicht entreißen konnte. Und er musste erfahren, dass seine Theorie falsch war. Er kam Nicola so nahe, übermannt vom Verlangen, anfangs nur nach Bier im Übermaß, später auch völlig nüchtern, dass er nach seinem Wissensstande vom Aussatz erfasst werden musste. Doch ihm konnte die Krankheit nichts anhaben. War er in Gottes Augen unschuldig, in den Augen eines Wesens, an das er den Glauben lange verlor? Es musste ihm unbekannte Ursachen geben, die aus den einen Aussätzige machten, die anderen gesund bleiben ließen. Sein gesamtes bisheriges Gedankengebäude stürzte ein. Er sah sich nicht mehr vor im Kontakt mit den Kranken, kehrte zurück in den Schoß der christlichen Kirche, spendete Kraft und Trost aus Psalmen und fand irgendwann, Nicola war ein Jahr zuvor gestorben, diesen hellen tauben Fleck auf seiner sonnengebräunten Haut, bemerkte irgendwann den nachlassenden Tastsinn in Händen und Füßen, begriff sehr spät, dass er doch recht hatte, dass sich seine Theorie an seinem Körper bestätigte. Er verfluchte seinen, verfluchte alle Götter, zog mit Karls Truppen nach Norden, konnte nicht jede Verletzung vermeiden, wurde nicht mehr als der Heiler, wurde selbst als Kranker wahrgenommen, mit der üblichen Tracht, einem langen Mantel, Hüllen für Hände und Füße und der hölzernen Klapper versehen. Mittellos jagten sie ihn davon, überließen ihn der Mildtätigkeit anderer und seiner eigenen Geschicklichkeit, wenn es darum ging, zu nehmen, was man ihm nicht geben wollte, oft davongejagt, oft dem Tode nahe, immer allein, allein bis zu jenem Tage, als er sich hinter einen halbnackten

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