Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
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Die alte Burg „Wulffgart“ lag an der Haagstraße, die vom Dorfzentrum in schrägem Winkel nach Nordosten und zur Landstraße verlief. Vom Dorf bis zur Burg war die Haagstraße asphaltiert, das letzte Stück, zur L 249, war allerdings nicht mehr als ein Feldweg. Die langgestreckte Westmauer der Burg bildete zugleich die Rückseite der Anlage und grenzte, ebenso wie ein Teil der Südmauer, an den Waldrand.
Die alte Burg war eine frühmittelalterliche Anlage und ließ den Aufwand und die Komplexität späterer Burgen vermissen. Sie bestand aus einem Mauergeviert, mit dem nach Osten weisenden Haupttor, einem einzelnen Turm und mehreren kleineren Gebäuden, die sich entlang der Wehrmauer zogen. Die Burg war nie zerstört oder umgebaut worden und somit in ihrem Ursprung erhalten geblieben. Die Zeit und die Witterung hatten ihr zugesetzt und von den alten Gebäuden waren nur die Mauern übrig geblieben. Der japanische Eigentümer hatte die Toranlage und die Gebäude restaurieren lassen und sich dabei auf die Beratung einiger Historiker gestützt.
Die Wehrmauer war um die fünf Meter hoch und wies auf der Innenseite einen hölzernen Wehrgang auf. Es gab einen Stall, ein Wirtschaftsgebäude, ein Wohnhaus und ein Vorratslager. Wirtschaftsgebäude und Wohnhaus waren zweigeschossig. In der unteren Ebene waren sie gemauert, darüber bestanden ihre Strukturen jedoch aus Fachwerk. Wahrscheinlich waren früher die Fensteröffnungen einfach mit Stoff oder Holzläden verschlossen worden, doch nun verwendete man Isolierglas, dem man das Erscheinungsbild von Butzenscheiben gab. Der einzige Turm war ein mächtiger Klotz und hatte als Bergfried und letzte Zuflucht gedient. Er besaß einen quadratischen Querschnitt und erhob sich in der Nordostecke der Anlage. Mit seinen vier Stockwerken und der gedrungenen Bauweise wirkte er noch immer erdrückend und bedrohlich. Wahrscheinlich war er überdacht gewesen, denn es gab keine Zinnen, sondern Schießschartenartige Durchbrüche im Mauerwerk. Der jetzige Eigentümer verzichtete auf eine neue Dachkonstruktion. Stattdessen erhob sich auf der obersten Plattform des Turmes ein Podest, auf dem ein fest montiertes Fernrohr stand. Von hier aus konnte man weit in den Naturpark hinein sehen. Über dem Turm wehte die Fahne des japanischen Hauses Yamahata.
Der Japaner war ein der Tradition sehr verbundener Geschäftsmann und er hatte sein Vermögen durch Fleiß und Intelligenz erworben. Er behielt es sich vor, die alte Burg eine Tages für eigene Zwecke zu verwenden, doch bis dahin verpachtete er die Anlage, wohl wissend, dass sie so, auf eine für ihn günstige Weise, gepflegt wurde. Das Ehepaar Bachmann, welches die Kermeter Schänke betrieb, hatte von dem Japaner die Erlaubnis erhalten, die Anlage zu nutzen, sofern sie keine baulichen Veränderungen vornahmen, die den Charakter der Burg verändert hätten. Doch das wäre ohnehin nicht im Interesse der Bachmanns gewesen.
Der findige Herr Bachmann hatte rasch das Potenzial der kleinen Burg erkannt und machte sich eine Leidenschaft des Herrn Yamahata zunutze. Zwar hätte der traditionsbewusste Japaner keinerlei Touristen in seiner Burg geduldet, doch der Japaner empfand eine Leidenschaft für das europäische Mittelalter. So richteten die Bachmanns die Anlage, mit der ausdrücklichen Zustimmung des Eigentümers, auf die Bedürfnisse eines eher speziellen Kundenkreises ein. Es gab viele Menschen, die in ihrer Freizeit das Mittelalter oder andere Epochen auferstehen ließen und sich über die Wochenenden kleideten und verhielten, als lebten sie tatsächlich in einer längst vergangenen Zeit. Für diese Gruppen war Burg „Wulffgart“ eine willkommene Möglichkeit, sich für ein paar Tage ins frühe Mittelalter zu begeben. Die Leute investierten viel Zeit und Geld in ihre Leidenschaft und gehörten in der Regel nicht zu den vermögenden Kunden, doch die Bachmanns passten sich den Gegebenheiten an.
Die „Mittelalterleute“ hatten für Herrn Yamahata und die Bachmanns durchaus Vorteile. Viele von ihnen waren mit den alten Handwerken vertraut und bestens geeignet, die Burg originalgetreu in Schuss zu halten und kleine Mängel zu beheben, so dass ihnen keine Kosten für den Aufenthalt berechnet wurden. Herr Yamahata erfreute sich daran, dass diese Menschen seine Burg zu schätzen wussten und sie bereitwillig pflegten, und die Bachmanns erfreuten sich an Gästen, die oft auf Speisen und Getränke zurückgriffen, welche das Ehepaar bei den Mittelaltertreffen anboten.
Im Untergeschoss des Wohnhauses der Burg hatten die Wirtsleute eine Schänke eingerichtet, deren rustikales Ambiente den Wünschen der Hobbygruppen entgegen kam. Die Preise waren günstig und die Bachmanns verfügten über einige Quellen, von denen sie auch mittelalterlich anmutende Waren und Getränke erstanden. Die zusätzliche Einnahmequelle durch die Mittelalterfreunde machte die Aushilfen mehr als wett, welche die Wirtsleute, an den Wochenenden der „Rittertreffen“, für die Kermeter Schänke einstellen mussten.
An diesem Samstag luden die Bachmanns zum Wolfsfest. Die Ankunft der Wölfe war ihnen ein willkommener Anlass und Doktor Mayen von der EWoP sah dies als Gelegenheit, ein wenig Werbung innerhalb der Wolfgartener Einwohnerschaft für das Akzeptanzprojekt zu machen. So hatten die Bachmanns, auf Kahnkes Betreiben, die Dorfbewohner eingeladen und zwei Mittelaltergruppen gebeten, für ein wenig zeitgenössische Stimmung zu sorgen. Diese sagten gerne zu, dem Paar den Gefallen zu tun, zumal kostenfreier Met winkte.
Am Freitag waren die ersten Gäste eingetroffen und sie nahmen die übliche Mühsal auf sich, denn die Burg verfügte nur über wenige Parkplätze. Für die Mittelalterfreunde war es selbstverständlich, ihre Fahrzeuge „außer Sichtweite“ zu bringen, denn deren Anblick würde ihr Empfinden einer „Zeitreise“ erheblich stören. So bewegten sich seit Freitag diverse Fahrzeuge auf jenen Straßen, die zu den Touristenparkplätzen am alten Feuerwachtturm und der Rangerstation führten, zwischen denen merkwürdig gekleidete Menschen zur Burg strebten. Burgfrauen, Knappen, Ritter und Gaukler, dazu ein paar Handwerker der alten Zünfte.
Ihre Anwesenheit schien die alte Burg um Jahrhunderte zurück zu versetzen.
Für die Wolfgartener war das ein exotischer Anblick. Manche lächelten über die Verrückten, andere führten jedoch auch interessierte Gespräche und waren überrascht, dass die Mittelalterfreunde sich nicht nur verkleideten, sondern auch über eine Menge an Fachwissen verfügten. Da die Gaukler und Spielleute am Abend für Unterhaltung sorgen wollten, konnte man mit dem regen Interesse der Dorfbewohner rechnen.
Die Bachmanns passten sich den Kunden an und trugen ebenfalls Kleidung die, wenigstens grob, ins frühe Mittelalter passte. Sie wussten, dass die Mittelalterfreunde es nicht schätzten, wenn sie in Jeans bedient wurden. Zudem gaben die Betreiber der „Kermeter Schänke“ bereitwillig zu, dass es ihnen selbst Spaß machte, ein wenig in die alte Zeit hinein zu schlüpfen.
„Bier, Wein oder Met?“, fragte Herr Bachmann freundlich und lehnte sich auf den Tresen der Schänke.
Der angesprochene Doktor Mayen von der EWoP strich sich zögernd über das Kinn. „Ich weiß nicht recht. Met hört sich ganz interessant an.“
„Alter germanischer Honigwein“, erläuterte Herr Bachmann. „Sehr lecker.“
„Schön, dann geben Sie mir ein Glas.“
Der Wirt lächelte freundlich. „An diesem Tag nur im Becher oder Trinkhorn.“
Der Tierarzt und Wolfsforscher entschied sich für das Trinkhorn, kostete und nickte anerkennend. „Bringen Sie uns noch Vier von den Dingern da vorne an den Tisch.“
„Wird erledigt.“
Rechts und links des Eingangs der Schänke standen die Tische und Sitzbänke. Sie waren grob aus Holz gefertigt, hatten allerdings bequeme Sitzauflagen. Ein Zugeständnis der Bachmanns an die Dorfbewohner und die Forscher der EWoP. Vor dem Tresen stand ein buntes Gemisch aus Gästen, die dabei zusahen, wie die kleine Bühne für den Auftritt der Spielleute vorbereitet wurde.
Mit leichtem Klingen seines metallenen Kettenhemdes trat ein Ritter an den Tresen und legte die, von einem metallbewehrten Handschuh geschützte, Hand auf die polierte