Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
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„Paps, bitte, das Buch!“
„Ach ja, das Buch. Das ist eine interessante Geschichte. Ich entdeckte es zufällig in den Archiven des Museums. Ich stand gerade auf der Leiter, um etwas in einem höheren Regal zu suchen. Im hinteren Teil des Museums ist kein Publikumsverkehr. Wir lagern dort die wirklich wertvollen Bücher. Die meisten wären für den Laien auch nicht von Interesse. Sind überwiegend in lateinischer Sprache verfasst. Ich stand auf der Leiter im alten Lesesaal. Da fiel mir auf, dass ein Buch keine Katalognummer auf dem Rücken hatte.“
Rolo seufzte.
„Okay, mein Sohn, jetzt pass auf: Dieses Buch ist überhaupt nicht in den Katalogen des Museums zu finden. Ist das nicht spannend? Ich ließ eine Probe des Ledereinbandes im Labor analysieren, um ihm auf die Schliche zu kommen. Das Labor datierte es auf ca. 2000 Jahre vor Christus. Herrje, da war das Papier noch lange nicht erfunden. Natürlich könnten Einband und Papier erst später zusammengefügt worden sein. Aber wer macht denn so was? Und warum? Das ganze Buch ist mit einer schwarzen Tinte geschrieben. Sie ist seltsam verblasst und stinkt bei feuchtem Wetter. Laut Labor ist es eine nicht genauer zu definierende organische Verbindung. Ist das nicht rätselhaft? Erwartet hätte ich eigentlich ein Gemisch aus Ruß, Öl und Leim. Daraus waren nämlich die ersten Tinten, musst du wissen. Ich wollte schon die alten Museumskataloge wälzen, was wirklich eine Sisyphosarbeit geworden wäre, aber dieses Buch hat keinen Autor. Nein, das ist nicht ganz korrekt. Richtig wäre zu sagen, wir können den Autor nicht ermitteln. Das ganze Werk ist nämlich in einer Sprache verfasst, die wir nicht verstehen. Ich bin nahezu jedem Wort nachgegangen, das mir auch nur im Entferntesten bekannt vorkam. Nichts. Ich hielt es erst für einen seltenen Dialekt und kontaktierte alle mir bekannten Spezialisten auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen. Fehlanzeige. Einige hielten es für einen Witz, andere unterstellten mir sogar, ich hätte eine Fälschung erstellt, um mich wichtig zu machen. Pah! Ich lese seit Wochen darin, in der Hoffnung, eine heiße Spur zu finden. Hoffe nur, dass sich da niemand einen Scherz mit mir erlaubt.“
„Was ist denn mit den Zeichnungen? Helfen die nicht weiter?“
„Die sind mehr als rätselhaft. Wenn ich richtig liege, stellen sie Teile einer Geschichte dar. Immer wieder taucht diese Frau auf. Meistens ist sie in Begleitung dieser pelzigen Dinger. Ich vermute, es sind Kobolde oder so was. Auf manchen Bildern scheinen sie die Frau anzubeten, auf anderen sieht es fast wie eine Jagd aus. Die Kobolde schlagen Schlachten gegen Drachen und andere mythische Wesen. Verrückte Sache. Die Zeichnungen sind wirklich wundervoll. So viele Details. Hier ein Gesicht im Laub, da ein verstecktes Auge. Herrje, vielleicht ist das Ganze auch nur ein wirklich altes Märchenbuch.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, meinte Rolo.
Kapitel 4
Hinter jeder Biegung erschien es Rolo, als wäre das Grün des Waldes noch satter, die Luft noch klarer. Ein Orchester aus Vogelgesang erfüllte die Luft. Eine leichte Brise wehte. Die Katze schlief im Korb. Die Welt war in Ordnung. Rolo fragte sich, wie viele Seen und Flüsse sie noch passieren würden bis zur Ankunft in Neunseen. Außerdem war er sehr gespannt auf seine Tante. Dann wurde der Wald lichter und endete. Das Zwielicht wich dem strahlenden Glanz eines Sommertages. Paps setzte seine Sonnenbrille auf. Sie fuhren zwischen Wiesen dahin. Das Gras stand knöchelhoch und wog sich gleichmäßig im Wind. Das Marschland gab den Blick auf das Gebirge frei. Rolo staunte. Auch auf diese Entfernung vermittelte es einen Eindruck von Erhabenheit und Größe, der ihm den Atem verschlug. Er fühlte sich seltsam klein bei dem Anblick. Unvermittelt dachte er an eine Burg. Eine schützende Festung mit hohen Mauern, gegen die die düsteren Horden eines mörderischen Herrschers in wilden, längst vergangenen Zeiten anrannten. Ein Schlagloch brachte ihn zurück. Drei schneebedeckte Gipfel überragten alles. Er bemerkte, dass sein Vater sprach.
„… und der dort wird Drachenhort genannt. Tante Farrah wird dir die Legenden sicher gerne erzählen, die sich um diese Gegend ranken. Und das sind nicht wenige. Und da liegt Neunseen.“
Jenseits einer Erhebung tauchten Häusergiebel auf. Neunseen lag in einer Talmulde, umgeben von Wiesen und Apfelbäumen. Dazwischen schlängelten sich Flüsse und Bäche dahin. An den Ufern standen Mühlen. Die Mühlräder drehten sich sprudelnd im Wasser. Hinter Neunseen lag ein See. Rolo konnte nicht mal schätzen, wie groß er sein mochte. Boote glitten mit straffen Segeln auf ihm dahin. Neunseen schien ihm wie aus dem Felsen des Gebirges gehauen, schon so viele Jahre hier zu stehen, dass es wie ein Teil der Landschaft wirkte. Die Häuser waren hoch und standen dicht gedrängt. Fensterläden und Türen, in allen Farben des Regenbogens, verliehen dem Bild bunte Sommersprossen im grünen Gesicht des Tals. Den Ort umschloss eine gewaltige Hecke.
„Schön, schön“, kommentierte Paps.
„Wirklich ein Knaller“, befand Rolo begeistert. „Lass uns runterfahren. Ich will es aus der Nähe sehen.“
Der Weg führte bis vor das Stadttor.
„Was Du uns bringst, wird Dir doppelt gegeben“, las Rolo. Die Inschrift war in die höchste Stelle des Stadttors gemeißelt.
„Ist das jetzt ein Willkommen oder eine Warnung?“
Der Torbogen war halbrund und über und über mit Efeu bewachsen. Nur die Inschrift war vom Grün befreit. Ein rostiges Fallgitter schwang quietschend im Durchgang.
„Die Hecke ist voller Dornen“, meinte Rolo. „Wer da durch will, muss sehr dickhäutig sein.“
„Die Hecke ist uralt und unglaublich verwuchert“, erklärte Paps. „Hält Tiere draußen. Dieses Tor hier dient einem anderen Zweck. Zum einen soll es schön aussehen, zum anderen wird es uns daran hindern, mit dem Wagen in die Stadt zu fahren.“ Mit diesen Worten parkte er auf der Wiese neben dem Weg. „Ab hier wird gewandert.“
Rolo nahm den Katzenkorb von der Rückbank und schulterte seinen Rucksack. Paps trug seinen ranzigen Lederkoffer unter einem Arm. Er verschloss das Auto sehr gewissenhaft. Igel wurde wach. Die Hecke schien ganze Vogelgroßfamilien zu beherbergen. Das Gezwitscher weckte seine Jagdinstinkte.
„Nein, jetzt nicht. Du kannst nicht zur Begrüßung die Singvögel von Neunseen massakrieren“, lachte Rolo.
Nichts rührte sich, als sie auf die Stadt zugingen. Das Stadttor war gerade so breit, dass sie nebeneinander hindurchgehen konnten. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Nur die Vögel sangen. Die Straße führte vom Tor aus gerade in die Stadt, gesäumt von prächtigen Häusern. Viele Fensterbänke waren mit Blumenkästen dekoriert. Die Fenster in den unteren Etagen der Häuser hatten bunte Verglasungen. Davor standen Tische und Bänke aus Holz. Das sah sehr einladend aus.
Die Blutguts standen noch unentschlossen auf dem rauen Kopfsteinpflaster, als eine Stimme ertönte. „Hey, ihr da!“ Rolo schaute umher, den Rufer zu finden. Er entdeckte ihn nicht.
„Eindringlinge!“, rief die Stimme. Sie hatte einen dramatischen Tonfall.
„Verzeihung“, rief Paps. Seine Worte hallten in der Häuserschlucht. „Wir sehen Sie nicht. Wir sind keine Eindringlinge. Wir sind Besucher.“
„Besucher?“, überschlug sich die Stimme. „Das ist ja noch schlimmer. Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich komme!“
Paps zuckte mit den Schultern. „In Ordnung.“
„Das