Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
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Читать онлайн книгу Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean страница 13
„Dein Vater wird mich was?“ Hwarf baute sich vor Kjeir auf, die massigen Arme in die Hüften gestemmt. „Überhaupt nichts wird er. Schämen wird er sich für dein Verhalten!“
„Aber Hwarf“, versuchte Rolo zu schlichten. „Ich wollte nicht …“
„Nein“, winkte Hwarf ab, „das tut jetzt nichts zur Sache. Von einem Nachtwehrer kann und muss ich mehr erwarten.“ Und dann brach er Kjeirs Bogen über dem Knie entzwei und ließ die Teile in den Straßenstaub fallen. „So. Ich denke, alles Weitere werden wir in der Schule besprechen. Für heute ist dein Dienst beendet. Geh zum Fest, wie alle anderen auch.“
Kjeir hob den zerbrochenen Bogen auf. Hasserfüllt blickte er erst zu Hwarf, dann zu Rolo.
“Du!“, keuchte er. „Du!“ Er warf die Bruchstücke seines Bogens nach Rolo.
„Kjeir!“, brüllte Hwarf, „jetzt ist es aber genug!“
Doch Kjeir hörte nicht. Er drehte sich um und rannte durch das Stadttor davon.
Hwarf schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. „So ein Heißsporn. Ich befürchte, er ist ganz der Vater.“ Er zuckte mit den Schultern. „Genug davon. Es tut mir wirklich leid, dass es dazu kam.“
Paps wollte etwas sagen, doch Hwarf fuchtelte mit der Bärentatze vor seiner Nase herum. „Nein, papperlapapp, genug davon. Wir gehen jetzt feiern. Außerdem wollt ihr doch bestimmt endlich eure Tante begrüßen.“
Paps seufzte. Rolo war ein wenig erschrocken. Er schaute auf den zerbrochenen Bogen. Wenn hier jeder eine Waffe zückt, wenn man sich streitet, werden das aufregende Ferien, dachte er.
„Kompanie Blutgut hier lang“, rief Hwarf. Schon marschierte er lachend los.
„Und wer hat jetzt das Kommando?“, flüsterte Rolo seinem Vater zu. Der zuckte nur mit den Schultern.
„Nicht trödeln“, rief Hwarf.
Die Blutguts nahmen ihr Gepäck und folgten ihm. Die Straße war leicht abschüssig. Rolo musste aufpassen, dass er nicht über das unebene Kopfsteinpflaster stolperte. Er schielte neugierig um jede Ecke. Die Stadt war wie ausgestorben. Von Weitem hörten sie Stimmgewirr. Hwarf marschierte stramm vornweg und beschleunigte seinen Schritt.
„Kommt, ihr Blutguts. Ich habe Durst.“
Sie bogen in eine Straße, wo die Häuser weniger hoch waren. Dafür hatten sie lange Schornsteine und große Schaufenster. Über den Türen waren Schilder aus Holz oder Messing angebracht, die den Namen und das Gewerbe des Handwerkers angaben. Liebend gern hätte Rolo sich die Auslagen in den Fenstern angeschaut. Doch er musste sich beeilen, um den Anschluss nicht zu verlieren.
„Das geschäftige Viertel ist heute dicht“, rief Hwarf. „Weiter!“
Sie bogen um eine weitere Ecke. Hier führte eine breite Allee hinab zum See. Der Hafen schien voll mit Menschen. Jetzt beeilte sich Rolo auch. Die Straße war von Fahnen und Wimpeln gesäumt, die von Haus zu Haus gespannt waren. Die Blutguts hörten Musik, als sie sich dem Festplatz näherten. Der Klang von Fiedeln, Flöten und Trommeln wehte ihnen entgegen. Sie verfielen in einen leichten Trab. Dann öffnete sich der Platz vor ihnen. Zahllose Marktstände waren mit Fackeln und Lampions dekoriert. Lauthals priesen die Verkäufer ihre Waren an. Töpferwaren, Schnitzkunst und allerlei Handwerkszeug. Zur Seeseite offen, begrenzten prächtige Häuser den Platz stadteinwärts. Aus den hohen Fenstern schauten die Bewohner über das Getümmel, während in den Erdgeschossen Schenken oder Cafés lagen. Geschickt jonglierten die Kellner riesige Tabletts zwischen den voll besetzten Tischen. Auf verschiedenen Bühnen wurde musiziert oder gezaubert. Die Leute tanzten ausgelassen und klatschten im Takt der Musik. In den Bäumen kletterten Kinder wie übermütige Affen herum. Aber das Sehenswerteste waren in Rolos Augen die Neunseener selbst. Zwar trug außer Hwarf niemand ein Bärenkostüm, trotzdem war er sich nicht sicher, ob sie nicht doch verkleidet waren. Die Frauen trugen wallende Kleider mit Spitzen und Rüschen, dazu riesige Hüte mit Schleiern und Federn. Ihre Begleiter waren mit Anzügen und Zylindern ausstaffiert. Alle waren bewaffnet. Krummsäbel und lange Messer steckten in Halftern, die am Gürtel getragen wurden. Viele musterten die Blutguts neugierig, schauten aber schnell weg, wenn sie ihren Blicken begegneten.
Ihr könnt mich ruhig angucken, dachte Rolo. Ich bin es nicht, der hier bekloppt aussieht. Andere waren nicht weniger altmodisch gekleidet, schienen aber einer weiter entfernten Zeit entsprungen. Bärtige Männer mit spitzen Hüten und wallenden Roben in giftigen Farbtönen. Willkommen am Hof von König Arthur, oder was?, dachte Rolo. So wunderte es ihn auch kaum noch, als in einiger Entfernung Männer über den Platz marschierten, die wirklich wie Ritter aussahen. Dunkle, enge Lederrüstungen. Dazu passende Stiefel mit großen Schnallen aus Messing. Die fand Rolo sehr lässig. Hwarf drängelte sich durch die Menge zu ihnen. Er reichte beiden einen hölzernen Becher. Paps schnupperte vorsichtig an dem Getränk. Es roch sehr vergoren.
„Eigentlich ist Rolo noch zu jung für …“
„Prost“, rief Hwarf und erhob den Becher.
„Prost“, lachte Rolo und nippte vorsichtig.
Paps seufzte. „Bitte, Rolo, trink langsam.“
„Hwarf, wieso bist du der Einzige hier in einem Bärenkostüm?“, wollte Rolo wissen.
„Bär?“, lachte Hwarf. „Junge, wo du herkommst, gibt es echt keine Schulen, was? Ich bin doch kein Bär. Ich bin ein Nachtalb. Damit erinnere ich an die Vertreibung der Nachtalben aus unserer Stadt.“
„Nachtalben?“, hakte Rolo nach.
Doch Hwarf war abgelenkt. „Kommt mit, ich muss euch ein paar Leuten vorstellen.“
Sie folgten ihm durch das Gedränge zu einem Tisch.
„Darf ich vorstellen: Lana, Tinka, Hallimasch und Onno.“
Lana, Tinka und Onno schienen in Rolos Alter. Lana und Tinka waren unübersehbar Schwestern. Beide hatten rotes, lockiges Haar und sommersprossige helle Haut. Ihre Kleider waren luftig und von blattgrüner Farbe. Onno war ein dicker Junge, der fröhlich grinste. Hallimasch rückte beiseite und bat die Blutguts, sich zu setzen. Er war ein älterer Herr mit langem grauen Haar und einem buschigen Vollbart. Er trug einen grünen Samtanzug und einen schäbigen, sehr hohen Zylinder. Dankbar nahmen Rolo und Paps Platz. Etwas abseits des fröhlichen Treibens bemerkte Rolo einige Gestalten, die ihn in Aussehen und Gehabe an Kjeir erinnerten. Ihre Haare waren lang, blond und zu Zöpfen geflochten. Die Gesichter waren schön, wirkten aber in ihrer reservierten Art neben den fröhlichen Bewohnern des Ortes etwas steif. Außerdem irritieren Rolo ihre katzenhaften Bewegungen. Er wollte Hwarf gerade danach fragen, als plötzlich die Musik verstummte. Nach und nach verebbten die Gespräche und alle Augen wandten sich zum See. Ein Schiff hatte angelegt. Es war ein Zweimaster. Bilder von Wolken zierten die hellen Segel. Vor dem weiten Horizont konnte Rolo kaum ausmachen, wo das Bild endete und der Himmel begann. Alles schien im Wind zu treiben. Den Bug des Schiffes schmückte eine prächtige Galionsfigur. Ein geschnitzter Hirsch mit einem mächtigen Geweih.
„Jetzt, mein junger Freund, wirst du sehen“, raunte Hallimasch.
Kapitel 6
Der Wald lag still im Zwielicht eines frühen Sommerabends.