Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
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Auch Rolo hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber es klang sehr spannend für ihn.
„Es freut mich besonders, heute zwei Besucher in unserer erlesenen Runde begrüßen zu können. Steht schon auf, ihr beiden.“
Rolo erschrak. Sein Vater zog ihn am Ellbogen hoch und stand selbst auf. Die Blicke unzähliger neugieriger Augen ruhten auf ihnen.
„Dies sind der ehrenwerte Gatte meiner Nichte Grellon und sein Sohn Roland. Ich bitte euch, sie willkommen zu heißen. Sie sind auf meine persönliche Einladung hier.“
Verhaltener Applaus. Die Blutguts setzten sich schnell wieder hin. Obwohl Rolo vom Nieselregen durchnässt war, wurde ihm sehr warm.
„Sie werden bestimmt jedem gern berichten von ihrem Heimatort Rabenstadt und dem Leben außerhalb des Nachtschattentals. Nutzt diese Chance. Kommen wir nun zu denen unter uns, die sich in diesem Jahr besonders hervorgetan haben.“
Rolo bemerkte einen Mann. Er schob einen gewaltig dicken Bauch vor sich her, den er unter schwarzer Kleidung versteckte. Ein Cape hing über seinen Schultern. Er stand nur da und schaute rüber. Rolo schupste seinen Vater an und deutete auf den neugierigen Fremden. „Belenus? Bist du das wirklich?“ Paps sprang von seinem Stuhl und näherte sich mit offenem Armen dem dicken Mann. Auch der schien ausgesprochen froh, Rolos Vater zu sehen. „Grellon, mein Junge“, schluchzte er. „Dass meine alten Augen dich noch einmal wiedersehen. Wie lang ist das her? Elf Jahre?“
Die beiden Männer umarmten sich herzlich und ignorierten den Protest der Sitznachbarn über die Störung.
„Zwölf Jahre“, sagte Grellon und löste sich aus der Umarmung. „So ziemlich genau zwölf Jahre, Belenus. Damals war Roland in etwa ein Jahr alt. Ach, Roland, komm schnell her!“
Rolo stand auf und näherte sich zögerlich.
„Das ist mein Sohn. Roland, das ist dein Onkel Belenus. Belenus Brock, um genau zu sein.“
Rolo streckte eine Hand aus, doch sein Onkel umarmte ihn kräftig und drückte ihn fest an sich.
„Wie deine Mutter siehst du aus. Das bricht mir das Herz.“ Selbst wenn Rolo hätte antworten wollen, die kräftige Umarmung nahm ihm jeglichen Atem. Schluchzend schob Belenus Rolo wie eine Strohpuppe von sich weg, um mit beiden Armen seine Schultern zu packen.
„Prächtiger Junge, prächtig.“ Er ließ von Rolo ab und zog ein großes Stofftaschentuch hervor, in das er sich geräuschvoll schnäuzte. Natürlich war es schwarz.
„Verzeiht mir. Ich bin ein alter Trottel.“
Rolo betrachtete den Mann genauer. Er hatte graues dichtes Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Leicht gebeugt stand er da mit seinem beachtlichen Körperumfang. Er musste einiges über hundert Kilo wiegen. Welche Kraft in ihm steckte, hatte Rolo ja bereits gespürt. Als das Gesicht wieder hinter dem schwarzen Tuch auftauchte, sah Rolo freundliche Augen, ein ausgeprägtes Doppelkinn und einen dunklen Spitzbart.
„Wann seid ihr angekommen? Ihr müsst hungrig sein? Wie seid ihr hierher gekommen?“ Er legte beiden Blutguts freundschaftlich einen Arm um die Schulter und führte sie an einen freien Tisch, der etwas abseits stand. Mehr Apfelwein wurde gereicht. Paps berichtete von ihrer Fahrt bis zu ihrer Begegnung mit Hwarf. Den Ärger mit Kjeir sparte er allerdings aus, und auch Rolo hatte kein Bedürfnis, davon zu erzählen. Aber er nahm sich vor, Belenus später nach Solomon, dem Schäfer, zu fragen.
Kapitel 8
Tweed hastete den Hang hinab. Loses Geröll nahm ihm den Halt. Er rutschte ab und schlug mit der Flanke gegen Fels. Benommen blieb er liegen. Wolken verdunkelten den Mond. Tweed blinzelte in den Nachthimmel. Seine Augen leuchteten strahlend gegen die Dunkelheit. Mit einem entschlossenen Satz stand er wieder. Hastig kratzten seine Pfoten über den steinigen Grund. Zwischen spitzen Felsen sprang er über einen Abhang, landete hart auf einer Schräge, überschlug sich und war schon wieder auf den Beinen. Schwer atmend duckte er sich unter einem Felsvorsprung. Nichts war zu hören, nur das laute Pochen seines Herzens. Vorsichtig streckte er die Nase hinaus und schnüffelte. Nichts. Er stützte die Vorderläufe an den Fels und richtete sich auf, um über den Vorsprung zu schauen. Auf dem Gipfel des Berges saß die Burg wie eine fette Spinne. Ihre zahllosen Fenster waren hell erleuchtet. Kein Anzeichen von Aktivität war zu sehen. Hatte er sich getäuscht? Er war sich sicher, dass das Irrlicht ihn bemerkt hatte. Doch dies war nicht die Zeit für Vermutungen. Der Grüne brauchte die Nachrichten.
Auf leisen Sohlen lief er weiter, geduckt zwischen den Felsen. Tweed war ein Schleicher, der seinesgleichen suchte. Kein Geräusch verriet ihn. Zwei Mäuse, die oben auf dem Felsen saßen, um sich die Sterne anzuschauen, bemerkten ihn nicht. So entfernte er sich weiter von der Burg. Mit einem Satz überwand er einen Graben, fand Deckung hinter einem toten Baum. Ein scharrendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Eine Krähe stocherte mit einem Stöckchen im Schnabel zwischen den Felsen nach Käfern. Tweed legte die Pfote ans Maul. „Pssst.“ Die Krähe legte den Kopf schräg, schien zu verstehen. Doch dann nahm sie das Stöckchen zwischen Schnabel und Kralle und brach es entzwei. Das zarte Geräusch des brechenden Holzes klang wie Kanonendonner in Tweeds Ohren. Wütend schnappte er nach der Krähe. Doch sie war schon in der Luft, flog krächzend davon. Tweed wusste, dass alle Heimlichkeit jetzt vorbei war. Er hätte genau so gut ein Signalfeuer entzünden können. Die schräg abfallende Ebene vor ihm war durchsetzt von unregelmäßigem Fels. Er konnte nicht sehen, was am Fuß des Berges lag. Aus der Ferne hörte er ein Geräusch. Es klang wie das Rauschen eines Wasserfalls. Die Wolken zogen weiter und der Mond erhellte die Nacht. Das wird ja immer besser, dachte Tweed und schaute zurück, rauf zur Burg. In diesem Moment erlosch dort das Licht. Tweed duckte sich. Er wusste, dass man aus dem Dunkeln gut ins Dunkel blicken konnte. Jetzt nur weg! Mit kurzen flinken Sprüngen begann er seinen Abstieg. Er schaute nicht zurück, schaute sich nicht um. Das Rauschen wurde lauter. Es war jetzt mehr ein Brummen, schien näher als zuvor. Der Hang wurde steiler. Tweed musste vorsichtig sein, um nicht den Halt zu verlieren. Er war sehr froh über seine vier Beine. Um sich zu orientieren, bestieg er einen Fels, der in der schroffen Landschaft etwas hervorstach. Am Fuß des Berges, gar nicht weit vor ihm, sah er die Quelle des Geräusches. Die Autobahn. Trotz der späten Stunde war sie stark befahren. Da unten komm ich nur bis zur Leitplanke. Hier oben, seitwärts durch die Felsen wird es mich Stunden kosten und bringt mich vom Weg ab. Wenn ich hier überhaupt je runterkomme. Und was dort oben wartet, möchte ich gar nicht wissen. Er entschied sich, einen Weg entlang der Straße zu suchen. Irgendwann konnte er vielleicht zwischen den Autos hindurch huschen und in Richtung Nachtschattental entwischen. Er erreichte den Straßenrand. Der Lärm der Autos betäubte seine sensiblen Sinne. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Halb blind wandte er sich nach Norden, lief los. Nur ein schmaler Streif kargen Grases zwischen Fels und Straße. Die Lichter der Autos erzeugten tanzende Schatten. Sie wurden länger und verschwanden. Ein Schatten blieb. Tweeds Flucht war vorbei. Die schwarze Gestalt wuchs aus dem heißen Asphalt. Sie entstieg dem Schatten wie einem dunklen See. Ihr schwarzer Umhang verschmolz mit der Nacht. Sie stand gebückt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Tweed wusste, mit wem er es zu tun hatte. Er war gewarnt. Der Lärm der Straße rückte für ihn in weite Ferne. Lichter kamen und gingen in schneller