Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean

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Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean

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schaute an sich hinab. „Aber nicht so. Muss mich umziehen. Immer diese Eile. Wenn ich nur wüsste, wo …“ Hwarf betrachtete nachdenklich die umliegenden Häuser. Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Ach, jetzt weiß ich wieder.“ Zielstrebig steuerte er auf das erste Haus zu, direkt hinter dem Stadttor. „Ihr wartet hier!“, rief er über die Schulter und schloss die Tür mit einem Knall.

      Die Blutguts rührten sich nicht. Sie wollten keine nähere Bekanntschaft mit den Bogenschützen machen.

      Kapitel 5

      Die Nachmittagssonne warf lange Schatten über die stillen Gassen von Neunseen. Die Blutguts standen geduldig in der Mitte der Straße. Ihr Gepäck lag zu ihren Füßen. Der Kater schlief im Korb. Rolo versuchte, unauffällig zu den Fenstern der Häuser hinauf zu schauen, wo die vermummten Bogenschützen verschwunden waren. Mit vor der Brust verschränkten Armen schlenderte er pfeifend die Straße auf und ab. Nichts war zu sehen. Dieser Hwarf hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank, daran blieb kein Zweifel. Aber die Bogenschützen waren der Knaller. Sie waren gerade eine Tagesreise von Rabenstadt entfernt, und Rolo kam es vor, als wären sie rückwärts durch die Zeit gereist.

      Wenn ich das Patze erzähle, der glaubt mir kein Wort, dachte er. Was das wohl für eine abgefahrene Schule ist? Wenn die hier alle so drauf sind wie Hwarf, dann gute Nacht.

      Aus Hwarfs Haus drangen gedämpfte Stimmen. Eilige Schritte polterten eine Treppe hinab. Die Tür ging auf.

      „Ah, da seid ihr ja.“

      Rolo musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen. Hwarf trug ein Bärenkostüm. Schwarzer Pelz am ganzen Körper. Die Füße steckten in dicken Tatzen, die Hände in plumpen Pfoten. Seine Nasenspitze war schwarz angemalt. „Ihr habt wirklich Glück, das ihr heute kommt. Das Fest gibt es nur einmal im Jahr. Ist immer ein großes Spektakel.“ Hwarf setzte die Hand an die Lippen und tat so, als trinke er einen tiefen Schluck aus einer Flasche. Dabei machte er laute glucksende Geräusche. „Da ist doch bestimmt auch ein Gläschen für unseren jungen Herrn Blutgut drin, oder?“ Bevor Rolos Vater was sagen konnte, plapperte Hwarf weiter. „Natürlich gilt es noch zu klären, ob ihr die Wahrheit sagt.“ Er tippte sich mit dem Finger an die Nasenspitze. „Aber mein Riecher sagt mir, dass ihr ehrliche Vertreter eurer Art seid.“

      „Sie werden sehen, dass wir die Wahrheit sagen“, bekräftigte Paps. „Und das Fest ist bestimmt ein großartiges Spektakel. Aber wir hatten eine lange Reise und möchten uns eigentlich lieber etwas ausruhen.“

      „Ah, da bist du ja.“ Hwarf begrüßte eine Gestalt, die hinter ihm aus der Tür trat. Sie trug einen dunklen Umhang, Bogen und Köcher. Kaum größer als Rolo, verbarg sie ihr Gesicht unter einer Kapuze.

      „Das ist Kjeir“, sagte Hwarf mit einer einladenden Geste in Richtung des Neuankömmlings. „Kjeir, das sind die Blutguts.“

      Rolo sagte freundlich Guten Tag. Sein Vater nickte lächelnd. Kjeir reagierte nicht. Stattdessen flüsterte er Hwarf ins Ohr. Hwarf lauschte mit ernster Miene, dann betrachtete er die Blutguts nachdenklich.

      „Mir ist völlig bewusst, dass du nur deine Pflicht tun willst, Kjeir. Und wenn du mal ein Neolinga bist, kannst du solche Entscheidungen treffen. Aber erst dann. Es gab stets einen Unterschied zwischen Vorsicht und Unhöflichkeit. Und die Anständigen wurden in dieser Stadt immer freundlich willkommen geheißen. Und meiner Meinung nach sind die Blutguts ordentliche Leute. Und ich denke, dass du dich in diesem Fall wirklich auf mein Urteil verlassen solltest.“ Kjeir hatte sicher nichts Gutes über sie zu sagen gehabt. Das unbegründete Misstrauen kränkte Rolo.

      „Was hat der Kapuzentyp denn für ein Problem?“, ärgerte er sich. Aber noch mehr überraschte ihn die Autorität in Hwarfs Worten. Hwarf war kein alter Spinner oder ein entflohener Irrer. Er war wirklich der Herr der Nachtwehr. Kjeir verneigte sich und schlug die Kapuze zurück. Er war schlank und von der Sonne gebräunt. Sein blondes Haar war zu einem langen Zopf gebunden. Einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Seine Augen waren stahlblau und mandelförmig. Rolo gefiel es überhaupt nicht, wie Kjeir ihn musterte. Es lag aber auch eine Ernsthaftigkeit in Kjeirs Aussehen, die ihn faszinierte.

       Der sieht aus, als wäre er mit allen Wassern gewaschen. Dabei ist er kaum älter als ich.

      Kjeir verbeugte sich. „Willkommen in Neunseen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Der Gebirgspass kann etwas unangenehm sein für Städter.“

      Kjeirs arrogante Art, seine geschwollene Art zu reden, machten Rolo wütend. Paps legte Rolo die Hände auf die Schultern. Rolo war überrascht ob dieser ungewohnten Geste, aber sie gefiel ihm.

      „Vielen Dank“, erwiderte Paps kühl. „Die Fahrt war ein Kinderspiel.“

      Hwarf trat zwischen sie. „Der gute Kjeir wird in meiner Abwesenheit die Wache beaufsichtigen. Ich möchte umgehend informiert werden, falls sich hier was tut.“

      Kjeir nickte. „Wie Ihr wünscht, Meister Hwarf.“

      „Natürlich nur“, ergänzte Hwarf lachend, „solange ich noch imstande bin, ganze Sätze zu verstehen.“ Er machte wieder die glucksenden Geräusche. Kjeirs Miene blieb versteinert. Hwarf wandte sich den Blutguts zu.

      „Ihr müsst wissen, der gute Kjeir hier ist ein hervorragender Schütze. Und dabei hat er eben erst das erste Schuljahr hinter sich gebracht. Somit ist er gerade im Rang eines Findlings. Aber er hat sich bei allen Gelegenheiten großartig hervorgetan. Aber das wundert niemanden. Kjeirs Vater ist einer der Neolinga. Wie war noch gleich sein Name?“

      „Dorn“, sagte Kjeir. „Dorn von Duular“.

      Ein Anflug von Unbehagen veränderte Hwarfs Miene. „Ach ja. Ich wieder. Die Familie von Duular lebt in Neunseen seit ewig und drei Tagen. Kjeir, in welcher Generation lebt deine Familie hier?“

      „In der 27. Generation.“ Kjeirs Stimme troff vor Stolz.

      Rolo war genervt. „Da seid ihr aber nicht besonders rumgekommen, wenn deine Familie schon so lange in diesem Nest hockt“, stichelte er.

      Kjeirs Miene verfinsterte sich. Seine Stimme war ein eisiger Hauch. „Nest? In diesem Ort haben sich Geschichten abgespielt, von denen du nicht die leiseste Ahnung hast, Stadtkind.“

      „Stadtkind?“ Rolo lachte überheblich. „Bei mir zuhause wäre dir ein Platz in der Mädchenvolleyballmannschaft sicher.“ Kjeir ging einen Schritt auf Rolo zu. „Meine Familie hat Ozeane bereist, von denen du noch nicht mal gehört hast, Stadtkind. Und wenn du irgendein Problem mit mir hast, können wir das gleich hier und jetzt klären.“

      „Ich schlage keine Mädchen“, erwiderte Rolo und reckte Kjeir das Kinn entgegen.

      Paps umfasste von hinten Rolos Nacken. „Jungs, jetzt ist es aber genug. Wir hatten eine lange Reise. Tut mir leid. Und meinem Sohn tut es auch leid.“

      Er schüttelte Rolo. Rolos Blick jedoch verriet, dass es ihm nicht im Geringsten leidtat. Kjeir griff zu seinem Bogen. Hwarf fuhr dazwischen.

      „Jetzt schlägt es aber dreizehn! Dass du hier Wache schieben darfst, verdankst du nur deinen guten Leistungen und der Fürsprache deines Vaters. Aber wir haben uns wohl getäuscht. Offensichtlich hast du noch lange nicht die Reife, die ein Mitglied der Nachtwehr mitbringen muss. Diese kindische Prahlerei. Du benimmst dich wie ein Gockel. Ich bin wirklich enttäuscht. Gib mir den Bogen!“

      „Aber

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