Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
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Читать онлайн книгу Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean страница 9
„Ja, mein Sohn ist ein richtiger Waldläufer“, ergänzte Paps.
„Ist das so? Na, da haben wir ja ein seltenes Exemplar. Freut mich, freut mich wirklich.“
„Sagen Sie, Solomon“, fragte Paps, „ist es noch weit bis ins Tal? Wissen Sie, dieser neblige Tunnel hier ist schwer zu fahren.“
„Nein, weiß ich nicht. Weit? Nein, nicht mehr weit.“
„Sie haben einen schönen Stock da. Besonders der geschnitzte Krähenkopf ist toll“, warf Rolo ein.
„Findest du?“ Solomon betrachtete seinen Stock, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, fürwahr. Der ist wirklich schön.“
Rolo glaubte, so etwas wie Überraschung in Solomons Gesicht zu erkennen. Der graue Mann beugte sich hinunter und kam mit seiner Kartoffelnase ganz nah an Rolos Gesicht.
„Tatsächlich? Ist das so? Du bist ein aufmerksamer Kerl. Ein guter Beobachter, fürwahr, das bist du. Das liegt an deinen wissenden Augen. Glaub mir, dafür hab ich ein Auge.“ Solomon gluckste. „Ha, ein Auge. Na, egal. Ich glaube, mein Junge, du trägst eine alte Seele. Ja, das wird es sein. Aber keine Sorge, das ist gut. Wirklich gut, vor allem für dich.“
Eine alte Seele. Rolo verstand nicht, was Solomon meinte. Aber er fand, es klang gut. Noch etwas war seltsam. Gerade eben wirkte Solomon noch so gewaltig. Jetzt erschien er Rolo kaum größer als sein Vater.
„Nun, denn“, sagte Paps, „ich hoffe, dass Sie Ihr Lamm finden.“
„Lamm? Oh, ja, mein Lamm. Na, ich nun wieder. Stehe hier rum und träume wie eine alte Esche. Nun, wenn ihr es nicht gesehen habt, muss es noch im Tal sein. Gibt ja nur den Weg hier. Hoffe, das arme Ding hat sich nicht in die Berge geschlagen. Nicht dran zu denken. Und dann noch der Fuchs.“
„Sagen Sie, Herr Solomon“, meldete sich Rolo, „wer hütet denn Ihre Herde, wenn Sie hier sind?“ Rolo fand, das war eine gute Frage. Er kam sich sehr schlau vor.
„Herde?“, stutzte Solomon. „Ach, die Herde. Nun ja, die hütet sich selbst. Ungemein unterschätzte Tiere, diese Schafe. Wirklich.“ Plötzlich erstarrte er. „Hört ihr das?“ Er blickte über die Wiese zum Waldrand.
Auch Rolo schaute, sah aber nichts außer Wildblumen. Er hörte auch nichts Ungewöhnliches.
Solomon ließ seinen Blick schweifen. „Driftwood“, flüsterte er. „So hat es schon begonnen. Auf bald ihr Blutguts, es hat mich gefreut. Wirklich gefreut hat es mich.“ Sprach es und stapfte, ohne sie anzusehen, ins hohe Gras hinaus, wobei er eine Spur von Nebel hinter sich her zog. Mit eiligen Schritten verschwand er zwischen den Bäumen.
„Driftwood?“, wunderte sich Paps. „Seltsamer Name für ein Lamm.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Irrer“.
Rolo schaute Solomon hinterher. „Irre.“
Der Nebel in der halben Höhle war nicht mehr so dicht und sie kamen gut voran. Rolo schaute sich jetzt noch aufmerksamer um. Wo die Bäume nicht so hoch gewachsen waren, konnte er einen Blick auf die Berge am Horizont werfen. Er lächelte, lehnte sich zurück und freute sich auf den Sommer. Endlich wurde es heller. Die halbe Höhle war zu Ende. Paps stoppte den Wagen. Die beiden Blutguts ließen sich mit einem Seufzer in ihre Sitze fallen.
„Abgefahren“, meinte Rolo.
„Nein, jetzt nicht“, erwiderte sein Vater, „erstmal die Beine vertreten.“
Rolo lachte. Sie stiegen aus. Es raschelte in den Büschen, wo sich anscheinend einige Bewohner des Waldes erschrocken davon machten. Rolo blickte zurück zum Ende ihrer Passage unter dem Fels. Erst jetzt erahnte er, unter welch einem gewaltigen Bergmassiv sie unterwegs gewesen waren. Das war kein einzelner Hügel oder Berg. Es war eine in sich geschlossene Gebirgskette. Wie gewaltig mussten die Bäume dort oben sein, dass sie so tiefe Wurzeln schlugen, die bis hinab zur Straße reichten? Sein Vater trat von hinten an ihn heran. „Beeindruckend, oder?“
Rolo nickte.
„Neunseen liegt in einem Gebirgskessel. Das Nachtschattental geht einmal drum herum wie ein Atoll. Unterbrochen wird das Gebirge nur hier, wo die Straße läuft. Und durch die Wiesen mit dem angrenzenden Wald. Allerdings ist dieser Weg kaum begehbar. Mündet dahinten in eine tiefe Schlucht. Und jenseits der Bäume geht der Fels weiter.“
„Wie geil ist das denn!“, staunte Rolo.
Sein Vater überging die Bemerkung und fuhr fort. „Fast überall ist er so geil, äh, steil wie hier. Es gibt jedoch einige Stellen, wo das Gebirge sanfter ansteigt, sodass man hineingelangen kann, ohne eine Bergsteigerausrüstung. Oben ist es überwiegend bewaldet. Großartiger Blick bei klarem Wetter. Ich selbst war einmal oben, habe aber auch das Wenige darüber gelesen, das es gibt. Die drei großen Erhebungen des Nachtschattentals kannst du sehen, wenn du zwischen den Bäumen hindurchschaust.“ Paps deutete mit den Armen irgendwo ins Grün. „Ich glaube, sie liegen hier, da und dort. Ach, der Kater.“ Er lief zum Auto und hievte den Transportkorb von der Rückbank. „Das Ganze ist nahezu kreisrund. Von Nord nach Süd dauert es Tage, um es zu durchqueren. Von Ost nach West auch. Hier drinnen gibt es so viele Seen und Flüsse, die alle miteinander in Verbindung stehen, dass die Neunseener nahezu alle weiten Strecken mit Booten zurücklegen. Oder zu Fuß, wegen der dichten Wälder. Autos gibt es hier kaum.“
Er stellte den Transportkorb neben dem Wagen auf die Erde. Zu beiden Seiten der Straße wuchsen dichte Himbeerbüsche. Dahinter erhob sich der Wald. Weißbirken, Kiefern und Erlen. Sie standen nicht sehr dicht, und so konnte die Nachmittagssonne zwischen den lichten Baumkronen hindurchscheinen.
„Seltsam, ich höre gar keine Vögel“, bemerkte Paps, öffnete den Korb und trat beiseite. „So, der Herr. Pinkelpause.“
Igel machte keine Anstalten herauszukommen. Rolo ging in die Hocke.
„Na, was ist denn los, mein Junge? Beleidigt?“ Er versuchte, den Kater vorsichtig aus dem Korb zu schieben. Igel knurrte.
„Er will nicht“, rief Rolo seinem Vater zu, der am Straßenrand auf und ab lief und die Arme schwang.
„Dann lass ihn. Vielleicht sind hier Füchse in der Nähe.“
Nachdem der Kater wieder auf der Rückbank verstaut war, setzten sie ihren Weg fort. Die Straße war bald nur noch ein Feldweg, uneben und schmal. Der Wald wurde dichter. Rolo wollte unbedingt bald darin herumstreunen. Wie dunkel musste es erst in der Nacht sein.
„Das hier, mein Sohn, ist wahrscheinlich der letzte Urwald in unserem Land. Er bedeckt mehr als die Hälfte des ganzen Tals. Besonders zum Gebirge hin steht er dicht.“
Rolo hörte nicht zu. Er war mit den Gedanken bereits tief in den Wäldern. Flüsse verliefen parallel zur Straße oder kreuzten diese. Sie überquerten eine Brücke. Die Ufer waren steil und ausgewaschen, sodass die Wurzeln der Pflanzen offen lagen. Ein üppiger Bewuchs von Schilf beherrschte das Bild. Ein kleiner See in einer Waldlichtung ließ Rolo wieder an das Buch denken.
„Sag mal, Paps, was ist das eigentlich für ein Wälzer in deinem Koffer?“
„Was meinst du?“
„Na das Buch. Dieses riesige Ding, womit du seit Tagen durchs Haus