Taubenjahre. Franziska C. Dahmen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Taubenjahre - Franziska C. Dahmen страница 20
Rafael starrte hingegen wie gebannt auf ihre vollen Lippen. Ein kleiner Krümel haftete auf ihrer Unterlippe. Am liebsten hätte er ihn mit dem kleinen Finger fort gestrichen. Ganz zart. Ganz vorsichtig. Als sie sich dann auch noch mit der Zunge über die Lippen leckte und dabei einen feucht glänzenden Film hinterließ, stöhnte er innerlich auf. Diese Frau machte ihn wahnsinnig.
»Rafael, jetzt bist du dran.« Ein junges Mädchen boxte ihn lachend in die Seite.
»Sina?!« Im ersten Moment irritiert, dann amüsiert, betrachtete er das junge Mädchen, das sich keck vor ihn hingestellt hatte und ihm eine reich mit Intarsien verzierte Gitarre hinhielt.
»Nun komm schon Rafael … spiel für uns …«, bettelte sie und zeigte dabei einen derart übertriebenen Schmollmund, dass Rafael unwillkürlich an zwei nebeneinander liegende Fahrradschläuche denken musste.
Um nicht laut auflachen zu müssen, sagte er stattdessen: »Hanna, darf ich dir Sina vorstellen?«
Hanna betrachtete das Mädchen neugierig. Sie mochte in etwa sechzehn Jahre alt sein und war eine glutäugige, dunkelhaarige Schönheit, die bis über beide Ohren in Rafael verliebt zu sein schien.
Eifersucht glomm in ihr hoch. Nie in ihrem Leben würde sie mit so einer Schönheit konkurrieren können. »Freut mich, sie kennen zu lernen«, stieß Hanna mit einer Stimme, die an Schmirgelpapier erinnerte, aus.
Das Mädchen ignorierte sie geflissentlich. Stattdessen konzentrierte sie sich weiterhin auf Rafael. »Nun mach schon … spiel eine Tarantella … Wenigstens für mich, ja?«
Rafael schüttelte den Kopf und hob ein kleines Stöckchen vom Boden auf. »Such dir jemand anderen aus Sina.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie spielen können …?«, meinte Hanna.
Rafael zuckte leicht mit den Schultern. »Etwas.«
Hanna blickte wieder interessiert auf die Gitarre. Die Einlegearbeiten waren aus Ebenholz und – wenn sie sich nicht irrte – aus Elfenbein. »Das ist ein wunderschönes Instrument.« Unwillkürlich streckte sie die Hand nach ihr aus, um ihr seidig schimmerndes Holz zu berühren, doch Sina zog sie ruckartig zurück.
»Sina! Du kannst unserm Gast nicht einfach die Gitarre wegziehen, wenn er sie sehen will.«
»Aber sie ist eine Gadje!«, stieß diese mit einem feindseligen Blick, der Bände sprach, aus.
»Ach, lassen sie nur …«, versuchte Hanna zu beschwichtigen.
Aber Rafael nahm Sina die Gitarre aus den Händen und reichte sie ihr. »Hier bitte, nehmen sie sie und schauen sie sich sie in aller Ruhe an. Ein Onkel von mir hat sie gefertigt.«
»Aber Raf!«, empörte sich Sina ungehört.
Hanna strich zärtlich über das glatt polierte Holz, das sich warm und seidig anfühlte. Dann fuhr sie mit ihren Fingern den Verlauf des Intarsienmusters entlang, ehe sie dazu überging, dem Instrument ein paar Töne zu entlocken. Sie klangen satt und rund.
»Sie spielen Gitarre?«
Hanna nickte.
»Ich dachte, Frauen wie sie würden eher Klavier spielen oder singen.«, entfuhr es ihm ungewollt.
Hanna, gar nicht beleidigt, lachte laut auf. »Es braucht ihnen nicht peinlich zu sein. Sie haben durchaus recht. Aber ich habe sowohl die Laute als auch die Harfe schon …«
»Sie spielen ebenfalls Harfe?«
»Meine Großmutter, Gott hab sie selig, hat mir beides beigebracht.«
»Möchten sie auf der Gitarre spielen?«
»Raf!«, protestierte Sina erbost, »Du kannst doch nicht …«
»Was?!«, herrschte er sie an.
Beleidigt drehte Sina sich um die eigene Achse und stürmte mit wehenden Röcken in die Dunkelheit hinaus, während ihr teils verständnisvolle, teils missbilligende Blicke folgten.
»Ich möchte wirklich niemanden … Und außerdem ist es mir peinlich. Ich habe lange nicht mehr gespielt.«
»Bitte.« Rafael sah ihr tief in die Augen.
Röte schoss ihr ins Gesicht und sie meinte, wie eine Leuchtfackel zu glühen. »Glauben sie mir«, antwortete sie mit zittriger Stimme, »ich kann wirklich nicht.«
»Geben sie ihrem Herzen einen Ruck meine kleine Nachtigall und tun sie meinem Enkel den Gefallen.«, mischte sich jetzt Rafaels Großvater ein. »Abgesehen davon, würden wir uns alle sehr darüber freuen … Wir haben nicht oft Gelegenheit, jemanden zu hören, der nicht … – wie sagen sie noch einmal? Ach, ja! – unserem eigenen Kulturkreis angehört.«
»Ich habe wirklich nicht mehr gespielt … Seit Jahren! Glauben sie mir! … Und außerdem weiß ich nicht, was ich spielen soll.«
»Oh, wenn es das ist …«, lachte der alte Mann. »Ganz einfach: Hören sie in ihr Herz hinein. Und genau das, was es ihnen sagt, das spielen sie.«
Zweifelnd blickte Hanna ihn an.
»Glauben sie einem alten Mann!«, versicherte er ihr. »Versuchen sie es … Nur zu!«
Mit zitternden Fingern brachte Hanna die Gitarre in Position und strich sachte über die festgespannten Drahtseiten, die sich unendlich vertraut anfühlten. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. Was hatte der alte Mann noch einmal zu ihr gesagt? Folge einfach deinem Herzen. Als ob das so einfach wäre! Insbesondere wenn es wie wild raste. Es war kaum zu bändigen. Ebenso wie ihre Hände, die wie Espenlaub zitterten. Noch einmal atmete sie tief durch, dann zupfte sie sachte an der tiefen E-Seite. Der Klang war satt und warm und beruhigte sie merklich. Schon wesentlich selbstsicherer ließ sie in schnellem Lauf ein A – D – G – H – E folgen.
Wer auch immer die Gitarre gestimmt hatte, er musste das perfekte musikalische Gehör haben. Es war die reinste Freude! Wie von selbst spielten ihre Finger ein kurzes Adagio, ehe sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, zu einem fröhlichen Allegro überwechselten, das in einer Fantasia von Alonso Mudarra mündete.
Ihre Großmutter hatte die Noten von einem befreundeten Dirigenten geschenkt bekommen und sie hatte sich als Kind in die zwischen Melancholie und überschwänglicher Freude oszillierende Musik des Spaniers verliebt. Da ihre Mutter aber ihre Schwiegermutter hasste, hatte sie ihr die Noten nach deren Tod weggenommen und verbrannt. »Du spielst mir nicht mehr auf dem Teufelsinstrument!«, hatte sie am Tag der Beerdigung bestimmt und die Gitarre kurzerhand verkauft. Aber wenigstens war ihr die Harfe geblieben. Ihre Mutter hatte keinen Käufer für sie finden können. Zumindest keinen, der den Preis, den sie dafür verlangte, bezahlen wollte. Also war sie, für immer auf den Speicher verbannt und in Laken eingepackt, geblieben. Auch wenn sie sie nicht spielen durfte, sie war da. Gleichwohl war Hanna tagelang aufgrund des Verkaufs ihrer heißgeliebten Gitarre außer sich gewesen und hatte geweint. Für immer meinte sie die Musik verloren zu haben. – Aber sie hatte sie nicht verloren. Alles war da. Alles war in ihr. Wie selbstverständlich spielte sie die Noten Mudarras; gerade so, als lägen sie vor ihr.
Erschöpft ließ Hanna den Kopf auf den Korpus der Gitarre sinken. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Um sie