Die lichten Reiche. Smila Spielmann

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Die lichten Reiche - Smila Spielmann

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in die Knie und presste ihre Hände gegen die Ohren.

      „Crystal! Crystal!“ Wie von weit her hörte sie die Stimme und langsam begriff sie, dass jemand nach ihr rief. Nur widerwillig öffnete sie die Augen um die Welt zu verlassen, in die ihre Stimme sie getragen hatte. Sie blickte in Lord Thorben fassungsloses Gesicht und blinzelte. Was tat er hier? Er stand nahe der Tür und hielt ein Holzbrett in der Hand, mit welchem er eine der Angreiferinnen gerade bewusstlos geschlagen hatte. „Wir müssen hier weg, bevor sie zu sich kommen!“ Crystal stand noch immer regungslos da und schaute auf ihren Bruder, der blutüberströmt über seiner Frau zusammengebrochen war. Doch dann war Thorben bei ihr, nahm ihre Hand und zerrte sie unsanft aus ihrem Gemach. Benommen stolperte Crystal hinter ihm her. „Rhys…“, schluchzte sie.

      „Ich... ich wollte doch nur...“, stammelte Thorben leise; dann sah er sie fest an. „Sie sind tot, Crystal. Wir können ihnen nicht mehr helfen und wenn wir nicht wollen, dass es uns ebenso ergeht, dann müssen wir schleunigst von hier verschwinden.“

      Dumpf begriff sie, dass er Recht hatte und wehrte sich nicht länger, als er sie den Gang entlang zog. Erst als sie Joys Zimmer erreichten, blieb Crystal ruckartig stehen und entzog ihm ihre Hand. „Wir müssen sie mitnehmen.“

      Thorben nickte. „Mach schnell“, stieß er hervor.

      Crystal öffnete die Tür. Joy saß auf ihrem Bett, die Arme um ihre Beine geschlungen. Tränen strömten über ihre Wangen. „Tante Crys!“, rief sie aus. „Ich hab Schreie gehört. Wo ist meine Mama?“

      Crystals Herz brach. Wie um alles in der Welt sollte sie dem Kind erklären, was heute Nacht geschehen war?

      Das letzte Licht des Tages fiel in das Turmzimmer der Akademie. Lucthen entzündete eine Kerze. Er war entschlossen die wenigen freien Stunden des Tages so gut wie möglich zu nutzen. Außerdem genoss er die Ruhe, die in der Bibliothek einkehrte, wenn es Abend wurde. Momentan hatte er den Raum ganz für sich allein. Lucthen ließ seinen Blick über die Wände wandern, genauer gesagt über die Buchrücken, die die Wände verdeckten. In der blauen Akademie gab es zwei runde Türme und dementsprechend zwei Bibliotheken. Von außen konnte man denken, dass eine Wendeltreppe bis nach oben führen mochte, doch Lucthen wusste, dass die Treppe auf halber Höhe endete. Der Raum unterhalb des Daches war mehr als zehn Mann hoch. Bücherregale, in ihrer Form der Rundung des Turmes angepasst, standen so dicht, dass die dahinter liegenden Wände nicht zu erkennen waren. Oberhalb der Regale hatte man Platz gelassen für einen Kranz aus Fenstern, der jedoch nur wenig Licht ins Innere der Bibliothek dringen ließ.

      Die Exemplare, die für die Lehrlinge zugänglich waren, standen in Griffhöhe. Danach kamen ein paar Reihen an Büchern, die über lange, bewegliche Leitern zu erreichen waren und sich mit fortgeschrittener Magie beschäftigten. Die wirklich interessanten Werke allerdings befanden sich darüber. Lucthen konzentrierte sich auf einen Buchtitel, führte die Geste des Holens aus und wartete geduldig bis das Buch in seine Hand schwebte. Als einer der wenigen, vollausgebildeten Magi der Mittellande wusste er, dass die sichtbare Welt nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit war und dass es eine größere, allumfassendere Wirklichkeit gab, die die meisten Menschen nicht begreifen konnten. Mit den Elfen war das selbstverständlich etwas anderes. Sie waren ihrem Wesen nach Magie – so sehr, dass man sagte, dass sie die feinen Linien des magischen Netzes, welches belebte und unbelebte Dinge miteinander verband, sehen konnten. Lucthens Begabung hatte sich sehr früh gezeigt und er hatte einigen Schaden angerichtet, bevor er in die Akademie gekommen war und dort gelernt hatte das Gewebe zu verstehen und gezielt zu manipulieren. Davor hatte er, ohne zu wissen was er tat, mit den feinen Fäden der Magie gespielt und einmal beinahe das Haus seines Vaters zum Einsturz gebracht. Der Körper eines Begabten war eine Waffe und er wusste nur zu gut wie gefährlich ungeschliffene Waffen waren. Jahrelange Übung hatte ihn eine eiserne Körperbeherrschung erlangen lassen und seine Waffe gut geschliffen. Dass sein Geist immer noch unbändig war, sein Wesen aufbrausend – nun das war seine Sache, solange es ihm gelang seinen Körper zu beherrschen.

      Lucthen wandte sich seinem Buch zu. Er bemühte sich seit Jahren herauszufinden, warum die Menschen die Magie jahrtausendelang vergessen hatten und sie erst langsam wieder zu entdecken begannen. Die erste Akademie in den Mittellanden war vor dreihundert Jahren gegründet worden. Man nannte sie Akademie des grauen Zweiges. Sie war an der Grenze zu Feyas Reich errichtet worden und heute noch die größte Ausbildungsstätte für Magi in den Mittellanden. Danach war die Akademie gegründet worden, in der er selbst studiert hatte, jene des blauen Zweiges. Die letzte der drei mittelländischen Akademien, die des grünen Zweiges, konnte erst auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken. Dort unterrichteten nur sieben Magi, denn obwohl es mehr als genug begabte Kinder im Osten des Reiches gab, weigerten sich viele Eltern ihre Kinder in die Akademien zu schicken. Der Beruf des Magi war nicht überall in den Mittellanden hoch angesehen und viele Eltern sahen nicht ein, warum ihr Kind eine Ausbildung zum Magi absolvieren sollte, wenn es genauso gut Bauer werden konnte oder Schuster. Lucthen war ziemlich erfolgreich, wenn es darum ging, Eltern zu überzeugen ihre Kinder in die Akademie zu schicken – und dazu musste er nicht einmal Magie anwenden. Es genügte meist ihnen zu erklären, wie gefährlich ihre Kinder werden konnten, wenn sie nicht lernten sich zu beherrschen, dass sie mit einer falschen Handbewegung das Haus anzünden konnten oder dass eine Berührung dazu führen konnte, dass die Kühe keine Milch mehr gaben. In den zwei Jahren, die Lucthen nun schon an der Akademie unterrichtete, konnte sich der blaue Zweig nicht über einen Mangel an Schülern beklagen und das war hauptsächlich sein Verdienst. Zugegeben, meist übertrieb er ein wenig, was das mögliche Gefahrenpotential anging – doch nur, wenn er sich davor überzeugt hatte, dass es dem Wunsch des Kindes entsprach, ausgebildet zu werden.

      Plötzlich durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, schoss die Wirbelsäule nach oben und explodierte schließlich in seinem Kopf. Unwillkürlich presste er seine Fäuste gegen die Schläfen und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer knackte.

      Dann sah er sie: Das offene Haar wurde ihr ins Gesicht geweht, doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Ihre hellen, blinden Augen starrten wie gebannt in die Ferne. Was sie sah schien ihr unerträgliche Qualen zu bereiten, denn in dem zarten Gesicht stand solch tiefer Schmerz, dass Lucthen leise aufstöhnte und unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte um sie zu trösten. Seine Qualen bedeuteten ihm nichts und er wollte alles, alles ertragen, wenn dadurch nur ihr Schmerz gelindert würde. Er sah wie sie leise seufzte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ihre Hand hob sich langsam, wie in Trance, um eine der silberblonden Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, als sich ihr Ausdruck plötzlich veränderte. Der Schmerz wurde greifbarer, realer. Lucthen konnte ihr Entsetzen und ihren Unglauben sehen. Einen Moment lang verstand er nicht, was geschehen war. Dann kippte sie langsam nach hinten. Ein Pfeilschaft ragte aus ihrer Brust. Er sah noch wie sich ihre Augen schlossen, wie sich der Blutfleck auf ihrem hellen Kleid langsam ausbreitete – dann verblasste das Bild.

      Minutenlang saß Lucthen völlig reglos. Nur sein Herz raste ihm in der Brust als wolle es zerspringen. Schließlich zwang er sich dazu seinen Geist zu leeren und sich in Meditation gleiten zu lassen. Einem Lehrling im zweiten Jahr sollte diese einfache Übung keinerlei Probleme verursachen, doch Lucthen brauchte mehrere Anläufe, bis es ihm gelang seinen Geist zu beruhigen.

      Stunden später fühlte er sich ruhig genug um die Meditation zu beenden. Er legte zitternd die Fingerspitzen aneinander und versuchte nachzudenken. Er glaubte nicht, dass sie tot war. Wenn dem so wäre würde er es wissen, sagte er sich. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ja ihr ganzes Wesen waren ihm so vertraut wie sein eigenes. Er kannte sie und kannte sie nicht. Vielleicht war er verrückt. Früher hatte er das tatsächlich gedacht, als er herausgefunden hatte, dass keiner der anderen Begabten Visionen von wunderschönen Frauen hatte. Mit den Jahren hatte er gelernt, dieses Geheimnis für sich zu behalten, da die Anderen darauf mit Ablehnung oder Angst reagierten. Doch für ihn war es so natürlich wie atmen, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass jeden Morgen im Osten die Sonne aufgeht, dass er sie sehen konnte. Er hatte sie aufwachsen sehen. Als er noch ein Kind war,

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