Die lichten Reiche. Smila Spielmann
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„Ich weiß“, entgegnete Corus, „aber manchmal scheint es mir, als würde sie tatsächlich in Trance sinken und… und wirklich etwas sehen.“
Dawn nickte langsam. „Einmal hat sie eine Vorhersage für mich gemacht.“
Corus setzte sich mit einem Ruck auf. „Was hat sie gesagt?“
„Ich weiß nicht genau…“
Ärgerlich runzelte Corus die Brauen. Er kannte Dawn gut genug um zu wissen, wann sie log. Anscheinend bereute sie es, überhaupt etwas erwähnt zu haben. „Was hat sie gesagt?“, wiederholte er.
„Ach, es war ganz eigenartig“, versuchte sie abzulenken.
„Komm’ schon…“
„Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Es ist schon ziemlich lange her. Angefangen hat sie mit dem üblichen Unsinn. Ewiges Glück und die große Liebe. Na, das kennst du ja. Dann plötzlich ist ihre Stimme tiefer geworden und eigenartig dumpf. Du wirst dem Klang der Harfe nach Osten folgen und dein Schicksal finden, hat sie gesagt. Ich hab keine Ahnung was das heißen soll und wenn du mich fragst, klingt es unsinnig.“
Corus grinste. Typisch Dawn, alles als Schwachsinn abzutun, was nicht in ihr Weltbild passte. „Irgendetwas verschweigst du immer noch.“
Zu Corus’ Erstaunen nickte sie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er noch mehr von ihr erfahren würde. „Plötzlich hat sie meine Hand los gelassen, als hätte sie sich verbrannt. Sie hat entsetzt gewirkt, Corus. Als hätte sie etwas gesehen, das ihr Angst gemacht hat.“
„Und damit hat sie dir Angst gemacht, nicht wahr?“
Dawn nickte benommen und ließ es zu, dass Corus sie in die Arme nahm. „Mach’ dir keine Sorgen, kleine Dawn. Ich lass nicht zu, dass dir etwas zustößt.“
Dawn grinste, obwohl ihr Tränen die Wangen entlangliefen. Gut zu wissen, dass es jemand gab, der auf sie achtete.
Mittstadt, die Stadt, die sich dicht an den Palast des Elfenkönigs drängte, erschien Crystal riesig. Sie hatte sogar eine Stadtmauer und Wachen, die jeden kontrollierten, der in die Stadt ein- oder ausfuhr. Crystal war selbstverständlich nicht kontrolliert worden; immerhin war sie in Begleitung eines Talosreiters unterwegs. Der Elfenbote hatte sich als schweigsamer Reisegefährte erwiesen, was Crystal jedoch nicht unangenehm war. So hatte sie genügend Zeit gefunden, ihren Gedanken nachzuhängen. Immer wieder wanderten diese zu Joy und sie erinnerte sich daran, wie ihre Nichte geweint hatte, als sie begriff, dass auch ihre Tante fortgehen würde. Crystal hatte sich bemüht, dem Kind zu erklären, dass sie gehen musste und nicht gehen wollte. Sie hoffte wirklich, dass Joy das verstand. Wenigstens hatte sie sie in guten Händen zurückgelassen. Magus Horten und Prudence würden auf die Kleine gut Acht geben. Und auch Thorben war in den Tagen der Reise immer wieder in ihren Gedanken aufgetaucht. Sie hatten ein letztes Gespräch geführt, als Crystal gerade dabei war, ihr Gepäck in Sturmmähnes Satteltaschen zu verstauen. „Willst du deine Harfe wirklich mitnehmen?“
„Ich werde sie ganz sicher nicht noch einmal zurücklassen“, hatte sie wütend erklärt und sich einen Moment später über sich selbst geärgert; diesmal war wirklich nicht er der Grund für ihre schlechte Laune. „Tut mir leid, es ist nur…“
„Schon gut. Ich verstehe dich ja. Ich wünschte, du müsstest nicht gehen.“ Crystal hatte ihm schweigend beigepflichtet. „Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, nicht wahr? Ich… ich will dich jetzt nicht belasten, doch versprich’ mir, dass du über mein Angebot nachdenkst, während du weg bist, ja? Mehr will ich gar nicht.“
Crystal trieb Sturmmähne ein wenig an, um nicht zu weit hinter dem Rappen ihres Begleiters zurückzubleiben. Alleine würde sie sich hier niemals zurechtfinden. All die vielen Häuser und Gassen – und so viele Häuser, die über zwei Stockwerke reichten. In Kornthal war ihres Wissens nach die Burg das einzige Bauwerk, das über einen zweiten Stock verfügte und die größte Stadt, Feldstadt, sicher nicht einmal halb so groß wie diese. Crystal rümpfte die Nase als sie in eine Gasse einbogen, in der sich das Geschäft des Färbers, eine Gerberei und am Ende eine Metzgerei befanden. Der Gestank nahm ihr fast den Atem und sie beeilte sich fortzukommen. Die Stadt war rund um den Palast angelegt und Crystal erhaschte immer wieder einen Blick auf das alles überragende Gebäude. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es mit der Magie der Elfen erbaut worden war. Die hochaufragenden Türme mit all ihren Fenstern und Balkonen erschienen ihr zu unwirklich, als dass sie von Menschenhand erbaut sein konnten. Sie fragte sich, wie viele Elfen hier wohl wohnten. Der Palast hatte gigantische Ausmaße – er war so groß wie eine ganze Stadt. Eine Stadt in der Stadt, dachte Crystal. Je näher sie dem Palast kamen, desto aufgeregter wurde sie. Ob sie wohl einen Elfen zu Gesicht bekommen würde? Crystal wusste, dass die Chance wohl eher gering war, aber man durfte ja wohl noch träumen. Der Talosreiter hielt sein Pferd schließlich vor einem der riesigen Tore an und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Auf sein Zeichen hin wurden sie eingelassen und ritten gemeinsam weiter. Crystal fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft durch das Tor, das hinter ihnen wieder geschlossen wurde. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch bestimmt nicht den Anblick, der sich ihr nun bot. Bäume wuchsen hier und der Boden unter den Hufen ihrer Stute war mit Gras bedeckt. Hätte sie nicht gewusst, dass sie sich mitten in einer Stadt befanden, sie hätte es nicht geglaubt. In der Ferne sah sie ein weiteres Tor und dahinter die Türme des Palastes. In dem Bereich, in dem sie sich jetzt befanden, standen schöne, weißgetünchte Häuser, die jedoch zu einfach wirkten um zum Palast zu gehören. Vor den Häusern standen Frauen, die miteinander tratschten, Wäsche auf Leinen spannten oder sich um ihre Kinder kümmerten. Vereinzelt sah Crystal auch Talosreiter, die in ihren wehenden Umhängen geschäftig ihrer Arbeit nachgingen. Nur langsam begriff sie, dass das Gelände des Palastes noch um ein Vielfaches größer war, als es von draußen den Anschein hatte.
Ihr Begleiter musste ihren staunenden Blick bemerkt haben, denn er meinte: „Wir befinden uns jetzt im äußeren Ring der Menschen; unser Ziel ist der zweite Ring.“ Damit trieb er sein Pferd weiter und überließ es Crystal, ihm – nicht weniger verwirrt als zuvor – zu folgen. Er ritt auf das Tor zu, das Crystal vorhin schon bemerkt hatte. Diesmal ließen ihn die Wachen nicht so einfach passieren. Er hielt sein Pferd an und legte die Hand an die Stirn. Crystal erkannte den Gruß der Talosreiter und sah, wie ihn der Wachmann erwiderte. Auch er trug den Umhang der Botenreiter des Elfenkönigs, doch war sein Umhang mit einer prächtigen goldenen Borte eingefasst.
„Ich habe den Befehl Lady Crystal Trenmain, Baronin von Kornthal, in den zweiten Ring zu bringen.“
Der Mann mit dem prächtigen Umhang nickte bestätigend. „Wir haben Euch bereits erwartet, Lady Crystal.“
Abermals passierten sie eines der mächtigen Palasttore und wieder fand sich Crystal einer wundersamen Täuschung unterlegen. Sobald sie durch das Tor geritten war, schienen die Türme des Palastes in noch weitere Ferne gerückt zu sein und das Gelände des zweiten Ringes schien riesig. Crystal sah, dass es hier keine Frauen und Kinder mehr gab. Das ganze Gelände lag seltsam ruhig vor ihren Augen. „Nur wenige Menschen, die nicht im Dienst des Königs stehen, bekommen den zweiten Ring zu Gesicht“, meinte ihr sonst so schweigsamer Begleiter plötzlich und musterte sie interessiert.