Emilie. Angela Rommeiß
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„Martha! Martha Erdmann!“, lachte die Frau und drückte Wilhelmine herzlich an ihren großen Busen. Auch andere ehemalige Nachbarinnen kamen hinzu. Dann wurden die Kinder betrachtet.
„Ach, wie der Junge seinem Vater ähnelt ...“
„So hübsche Mädchen ...“
„Blaue Augen wie’s Großmutterle ...“
„Viel zu dünn ...“
Die Rufe und das Geplapper der aufgeregten Frauen war ein einziges großes Durcheinander. Die Zwillinge drückten sich verschüchtert an Emilie. Wilhelmine lachte, wandte sich hierhin und dorthin, beantwortete Fragen, schüttelte Hände und wurde immer wieder neu begrüßt. Plötzlich traten die Menschen auseinander und machten Platz für einen Mann. Es wurde still. Vor Wilhelmine stand Viktor. Sie erschrak, als sie ihren Schwager ansah. Sein Gesicht war eingefallen und bartstoppelig, seine ganze Erscheinung wirkte ungepflegt.
„Guten Tag, Wilhelmine!“, sagte er leise. Seine Augen waren seltsam. So traurig und auch ein wenig verwirrt. Die Leute schauten betreten zu Boden oder gingen ein Stück weg.
„Es ist etwas geschehen.“, sagte Viktor. „Etwas Schreckliches.“
Nur das Ticken der Uhr war zu hören. In der Wohnstube der Pfarrersfamilie war es still. Auf dem großen grünen Sofa hockten Wilhelmines Kinder dicht aneinander gedrängt wie die Orgelpfeifen und folgten einem Teller voll Gebäck mit den Augen, den Frau Lehmann eben ins Zimmer trug. Zwei der Pfarrerskinder saßen auf der anderen Seite des Tisches und warteten auf den Tee.
„Jetzt sagt mal!“, begann Frau Lehmann betont fröhlich das Gespräch, „Sagt doch mal, wie gefällt es euch denn in Teplitz?“ Dabei sah sie die kleine Selma an. Selma steckte den Daumen in den Mund.
„Na, und was ist mit dir?“, wandte sie sich an Eduard.
„Ich will nach Hause!“, sagte Edi. Frau Lehmann wechselte einen Blick mit ihren halbwüchsigen Kindern. Der Junge zuckte die Schultern und grinste. Paula wollte ein Stück Gebäck nehmen, aber Emilie zog sie rasch aufs Sofa zurück.
„Aber nicht doch – nehmt, Kinder, es ist alles für euch!“, sagte die Pfarrersfrau zuvorkommend und schenkte Tee ein. Emilie stand auf, nahm fünf der kleinen Kuchen vom Teller und verteilte sie an ihre Geschwister. Schweigend aßen alle. Jacob wurde langsam zappelig. Er fühlte sich nicht recht wohl in dieser feinen Stube und wollte hinaus zu Otto und Albert und den Pferden. Er wusste nicht, dass die Männer bereits zu Hause bei ihren Familien saßen und ihren Kindern von der Reise erzählten.
Otto Jaske wollte gleich morgen mit seinem Knecht einen Rundgang über die Felder machen und anschließend die neuen Aufträge in die Geschäftsbücher eintragen.
Albert Hanemann war mit dem Gesellen schon in der Werkstatt gewesen und hatte die Arbeiten begutachtet, die während seiner zweimonatigen Abwesenheit angefertigt worden waren. Dabei trug er seinen Sohn auf dem Arm, der sich vor Freude kaum zu lassen wusste, den geliebten Papa wiederzuhaben. Alberts Frau konnte kaum noch einen Schritt gehen, so unförmig dick war ihr Bauch. Das Baby musste bald kommen. An den Jungen, zu dem er auf der weiten Reise ein so freundschaftliches Verhältnis gehabt hatte, dachte Albert kaum noch. Schließlich war sein Auftrag zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllt und die Familie heimgeholt worden. Sein Herz hing an seiner eigenen Familie und der Arbeit in der Steinmetzwerkstatt. Er konnte nicht ahnen, dass Jacob in ihm so etwas wie einen Vaterersatz gesehen hatte.
Nun, Jacob und seinen Geschwistern standen noch weitere Enttäuschungen bevor. Während Albert und Otto heimgekehrt waren und Frau Lehmann die Kinder beaufsichtigte, hatte der Primar bereits Boten losgeschickt, von denen einige schon zurück waren. Sie brachten Menschen mit, die für die Zukunft der Familie Haisch eine große Rolle spielen sollten.
Währenddessen saß Wilhelmine mit ihrem Schwager auf einer der Kirchenbänke im leeren Gotteshaus und musste sich die ganze bittere Geschichte Viktors anhören. Es war kühl und dunkel hier drinnen, aber sie waren ungestört. Nur der Pfarrer war zugegen. Stockend und immer wieder mit den Tränen kämpfend erzählte Viktor. Ab und zu unterstützte ihn Pastor Lehmann mit sanfter Stimme.
Nachdem Wilhelmines schicksalhafter Brief in Teplitz eingetroffen war, hatte sich Ludwig plötzlich völlig zurückgezogen. Er nahm nicht mehr an den Mahlzeiten teil, ging nicht zur Schule und verkroch sich stundenlang auf dem Heuboden. Weder das Keifen seiner Mutter noch das Zureden seines Vaters konnten ihn zur Vernunft bringen. Eines Morgens, Gertrud beschimpfte Viktor gerade, er hätte seinen Sohn öfter mit dem Stock verprügeln müssen, wie andere Väter es taten, sagte Ludwig laut und deutlich zu ihr:
„Du bist eine Mörderin!“
Gertrud verstummte augenblicklich, wich totenbleich an die Wand zurück und starrte ihren Sohn erschrocken an.
„Aber Junge, wie kannst du so etwas sagen!“, fuhr Viktor seinen Sohn an und schüttelte ihn, als er nicht reagierte. Da sprudelte es aus Ludwig heraus: Was er gehört und was er sich zusammengereimt hatte und dass er ganz sicher war, die Mutter hätte die Ahna umgebracht, indem sie sie vom Heuboden stieß. Gertrud hätte nun leicht alles abstreiten können, aber ihre Reaktion sprach Bände. Sie war so blass geworden, dass sie fast schon grün wirkte und stammelte immer nur:
„Sie war doch sowieso schon alt – sie war doch alt.“
Ludwig verließ noch am selben Tage das Elternhaus. Er ging nach Lichtental zu seiner Schwester Hanna, die dort mit ihrem Mann einen kleinen Hof hatte. Um mit der Last auf seiner Seele leben zu können, wurde er ein tiefreligiöser Mensch und verbrachte viele Stunden beim Gebet.
Auch Viktor wurde nicht mit der Tatsache fertig, dass seine Mutter von seinem eigenen Weib erschlagen worden war. Er zog sich, wie vorher sein Sohn, völlig zurück. Außerdem verfiel er dem Alkohol.
Gertruds verhärtetes Herz war indes auch nicht ohne Schaden geblieben. Die Schuld, mit der sie seit Jahren lebte, hatte ihren Verstand verwirrt. Das äußerte sich immer öfter in Wutanfällen, die sich nun, weil niemand anders mehr da war, hauptsächlich an den beiden jüngsten Kindern entluden. Als Viktor eines Tages seinen kleinen Arthur wimmernd und blaugeschlagen im Schafstall liegend fand, ging er zum Primar und zeigte seine Frau wegen Mordes an. Der Gemeindeschreiber war der Gesetzeskundige im Dorfe. Weniger wichtige Streitigkeiten und geringe Vergehen konnten vom Schulzengericht geahndet werden. Aber mit einem Mord war es überfordert. Schwere Vergehen wie dieses kamen vor das Wolostgericht. Zunächst holte der Büttel Gertrud von zu Hause ab und sperrte sie unter den Augen ihrer Kinder und sämtlicher Nachbarn in die Arrestzelle, das ‚Häusle‘, welches gleich hinterm Bürgermeisteramt lag. Gertrud spuckte Gift und Galle. Ludwig wurde es erspart, gegen seine eigene Mutter aussagen zu müssen, denn Gertrud war geständig, wenn auch nicht einsichtig. Zunächst kam sie ins Gefängnis, später wegen ihres verwirrten Geistes ins Irrenhaus.
Viktor versuchte, mit den Kindern ein normales Leben weiterzuführen. Obwohl er sich nicht offiziell als einer der Heiratskandidaten gemeldet hatte, hoffte er doch insgeheim, seine Schwägerin würde zu ihm ziehen und ihm den Haushalt führen. Als dieses Ansinnen im Gespräch ersichtlich wurde, griff der Pastor ein. Seine Worte waren freundlich, aber seine Augen blickten streng, als er Viktor unmissverständlich klar machte, dass er ein solch unzüchtiges Verhalten nicht dulden konnte. Schließlich war Gertrud noch am Leben und Viktor mit ihr vor Gott verbunden. Eine neue Frau kam nicht in Frage. Höchstens als Magd könne Wilhelmine bei ihm leben. Fragend sahen die Männer Wilhelmine an.
Als Magd bei Viktor leben und im Stall schlafen? Die eigenen Kinder zur Adoption