Emilie. Angela Rommeiß
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Otto und Albert betraten den kleinen Raum und brachten einen Schwall frische, kalte Luft von draußen mit. Fahrig wischte Wilhelmine über den Tisch, rückte Stühle zurecht. Dann bemerkte sie die Kinder im Hemd.
„Emilie, Paula, zieht euch was an, aber schnell!“
Eduard war auch auf den Beinen, nur Selma schlief noch tief und fest.
„Vier Kinder?“, fragte Otto Jaske. „Ich dachte, es wären fünf. Ist denn eines - ich meine...“
„Nein, nein!“, rief Wilhelmine schnell. „Gottlob haben alle den Winter überlebt, auch wenn eines recht krank gewesen ist. Ich habe noch kein Kind verloren und danke jeden Tag Gott dafür.“
„Ich musste schon zwei begraben.“, meinte Otto Jaske und ließ sich auf einem der Stühle nieder. „Oh, das tut mir furchtbar leid!“, sagte Wilhelmine und legte voller Mitgefühl ihre Hand auf sie seine. Jacob saß Otto gegenüber und sah ihm forschend ins Gesicht. Albert Hanemann stand unschlüssig in der Tür. Dann drehte er sich plötzlich um und ging zum Wagen. Fragend sah Wilhelmine Otto Jaske an. Der grinste nur, weil er ahnte, was Albert vorhatte. Mit zwei großen Körben kam Albert zurück und stellte sie mitten auf den Tisch. Neugierig drängten sich die Kinder, inzwischen mehr schlecht als recht angezogen, um die Sachen, die der Besucher auspackte. Ach, was da alles zum Vorschein kam! Kuchen, Brot, Dauerwurst, Äpfel, Sirup, Kaffee, Zucker, Hafermehl und Bohnen. Es waren alles nur Reste vom Reiseproviant. Die Säckchen mit den Vorräten waren halb leer, die Brotscheiben wellten sich und die Äpfelchen waren schon runzlig. Von der Wurst waren nur noch ein Paar Zipfelchen da und die restlichen Stücke vom einst saftigen Maiskuchen waren hart und krümelig. Bauern warfen nie Essen weg.
In den Augen der hungrigen Kinder tat sich ein Schlaraffenland auf! Jubelnd fielen sie über die Köstlichkeiten her. Lachend rettete Wilhelmine die Sachen wieder in die Körbe, dann goss sie Tee auf und bereitete ein Festmahl. Jedes Kind bekam seinen Tee mit Zucker gesüßt, der Kuchen und das Brot wurden in gerechte Portionen geteilt und zu guter Letzt durfte sich jeder noch einen Apfel nehmen. Auch Wilhelmine aß mit Appetit. Sie war so glücklich, als sie ihre ausgehungerten Kinder mit leuchtenden Augen und vollen Backen essen sah! Die verschlafene Selma wollte erst weinen, als die Mutter sie behutsam weckte, aber dann saß sie mit großen Augen am Tisch und bestaunte die fremden Männer. Als sie merkte, dass es süß schmeckte, was man ihr gab, sperrte sie gleich das Mäulchen auf und war genauso verfressen wie ihr Zwillingsbruder.
Die Männer aßen nichts. Schmunzelnd saßen sie da, tranken ihren Tee und genossen das Gefühl, Wohltäter zu sein. Es war angenehm, jemanden mit ein paar Bröckchen trockenem Kuchen so glücklich zu machen! Noch nie war Agnes‘ Backwerk einen Monat nach seiner Herstellung noch solches Lob zuteil geworden. Allein für die Freude, die es machte, in solch strahlende und glückliche Kinderaugen blicken zu dürfen, hatte sich die lange Reise für die Männer gelohnt.
Paula saß bei Albert auf dem Schoß und erzählte von der Kerze, die sie letzte Woche gegessen hatte. Mit Docht! Albert lachte und sprach von seinen Kindern zu Hause. Ach, da ging die Fragerei los! Alle plapperten durcheinander und bestürmten die Gäste aufgeregt. Irgendwann fragte eines der Kinder, wie denn das Haus aussähe, in dem sie dann wohnen würden. Otto und Albert verstummten und schauten über die Köpfe der Kleinen zu Wilhelmine hinüber. Die schüttelte nur unmerklich den Kopf, was heißen sollte: Sie wissen es noch nicht!
Nach einer Stunde konnte Wilhelmine ihre Rasselbande so weit beruhigen, dass sie bereit waren, wieder ihre Lager aufzusuchen. Diesmal schliefen alle satt und zufrieden sofort ein. Die Erwachsenen saßen noch lange beisammen und redeten. Sie sprachen über Jacob und seinen Tod, über den harten Winter und natürlich über die Heimat. Sie besprachen auch die Einzelheiten der Rückreise. Die konnte durchaus länger dauern als die Herfahrt, denn der Wagen würde voll und damit schwerer sein. Außerdem brauchten die Kinder mehr Pausen. Die Männer dachten erst, sie müssten alle abwechselnd neben dem Wagen herlaufen, weil so viel Hausrat mitzuführen sei, aber dem war nicht so. Außer einer Truhe hatte Wilhelmine keine eigenen Möbel. Alles andere war schon im Haus gewesen und blieb hier.
Die Männer schlugen ihr Nachtlager wie gewohnt im Wagen auf, während sich Wilhelmine neben ihren Kindern zur Ruhe legte. Lange konnte sie nicht einschlafen, denn die Aufregung des Abends war zu groß gewesen. In ihrem Kopf jagten sich die widersprüchlichsten Gedanken und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. In zwei Tagen sollte die Fahrt beginnen.
Die Formalitäten waren schnell erledigt.
Wilhelmine kündigte beim Vermieter den Pachtvertrag, meldete die Kinder von der Schule ab und sagte dem Dorfvorsteher Bescheid. Dann besuchte sie mit den Kindern das letzte Mal Wasile und seine Eltern. Der gute Bursche hatte die ganze Zeit zu ihnen gestanden und geholfen, wo er nur konnte. Nun umarmten sie sich unter Tränen und wünschten einander alles Gute für die Zukunft. Länger dauerte der Abschied auf dem Friedhof. Weinend standen sie alle sechs am Grab des Vaters und sagten ihm Lebewohl. Paula legte eine Handvoll Gänseblümchen auf den kleinen Hügel. Als die Kinder schon längst wieder zu Hause waren, kniete Wilhelmine immer noch da und hielt innere Zwiesprache mit ihrem toten Mann. In tiefem Gebet versunken fühlte sie sich seinem Geist so nahe, dass sie sicher war, Jacob könne sie hören. Leise begann Wilhelmine zu sprechen.
„Wir ziehen morgen wieder nach Hause, Jacob! Hier können wir nicht bleiben, noch so einen Winter überleben wir nicht. Es kann sein, dass ich wieder heirate. Vielleicht aber auch nicht. Unsere Kinder gebe ich zu Pflegeeltern. Es ist das Beste für sie, glaube mir! Im Gesetz steht, dass sie einen männlichen Vormund haben müssen. Dein Bruder ist selber arm, und sie sollen es doch einmal besser haben! Ach, Jacob, ich will ja nur nicht, dass sie im Waisenhaus landen, so wie ich. Du warst mir ein guter Mann, Jacob, und ich habe dich sehr lieb gehabt. Wer weiß, ob ich es noch einmal so gut treffe. Aber eine alleinstehende Frau gilt nicht viel, das weißt du ja. Ach, warum musstest du nur sterben, wir hätten noch so viele gute Jahre miteinander haben können!“ Wilhelmine schluchzte. „Nun liegst du hier ganz alleine in fremder Erde. Ich kann dich dann nicht mehr besuchen. Wasile hat versprochen, dein Grab zu pflegen, und das tut er auch, bestimmt! Ach, Jacob, nie wieder werde ich einen Mann so sehr liebhaben wie dich!“ Wilhelmine weinte bittere Tränen.
Mit verschwollenen Augen kam sie eine Stunde später vom Friedhof heim, ihr Rock war vom Knien ganz schmutzig. Albert und Otto wechselten verstehende Blicke und beluden schweigend den Wagen. Decken und Kissen wurden so gelegt, dass gleich bequeme Lager für die Kinder entstanden. Die Wäsche packte Wilhelmine in Bettbezüge. Spielzeuge, Spinnrad und Küchengeräte kamen in Kisten. Stall und Hof wurden noch einmal ordentlich gefegt, auch das Häuschen war sauber und bereit für neue Mieter. Niemand sollte ihnen nachsagen, sie wären liederliche Menschen gewesen.
Als sie am Morgen des 1. April 1906 aus ihren provisorischen Betten stiegen, waren alle sehr aufgeregt. Heute ging es los! Die Kleinen wurden warm eingepackt und in den Wagen gesetzt. Die Pferde mussten noch einmal getränkt werden. Derweil ging Emilie ein letztes Mal durch die Räume des Häuschens, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte.
Dass die nun vorbei war, ahnte sie bereits. Die Mutter war in den letzten Wochen so niedergeschlagen und bedrückt gewesen wie kurz nach dem Tod des Vaters im vergangenen Herbst. Hing das mit dem Brief zusammen? In einem unbewachten Moment hatte ihn Emilie heimlich hervorgeholt und gelesen. Alles verstand sie nicht, aber das Wort ‚Pflegefamilien‘ machte ihr doch zu schaffen. Emilie war noch zu sehr ein Kind, als dass sie ernsthaft daran glaubte, ihre Mutter würde eines Tages nicht mehr für sie da sein. Wenn sie bei fremden Leuten wohnen müsste, dann doch höchstens ein paar Wochen oder Monate! Außerdem könnte sie die Mutter sicherlich jeden Tag besuchen, weil sie bestimmt ganz in der Nähe wohnen würde. Große Sorgen machte sich das Mädchen also nicht. Trotzdem hielt sie ein seltsames Gefühl im Bauch davon ab, die Mutter direkt zu fragen.