Emilie. Angela Rommeiß
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„Woran sind eigentlich meine Großeltern gestorben?“
Der Pfarrer hätte beinahe den Kopf geschüttelt. Worüber wurde in dieser Familie eigentlich gesprochen? Er erhob sich etwas mühsam und zog nach kurzem Suchen ein großes, ledergebundenes Buch aus dem Regal. Er legte es auf den Schreibtisch und blätterte eine Weile.
„Da!“, rief er plötzlich und zeigte mit dem Finger auf einen Eintrag. Ludwig beugte sich ebenfalls über das Buch und las:
„Gottlieb Haisch – geboren am 26. August 1827 in Teplitz, gestorben am 8. April 1899 in Teplitz. Todesursache: Herzversagen.“ Aufblickend sagte Pastor Lehmann:
„Ich erinnere mich - er ist mitten bei der Arbeit gestorben. Plötzlich brach er zusammen, seine Lippen waren blau. Es ging schnell, er hat nicht gelitten. Du hast ihn wohl gern gehabt, was?“
Ludwig nickte. „Und meine Ahna?“, fragte er dann.
„Ach, die starb nur wenig später. Wie ich hörte, wollte sie schon damals deine Tante und deinen Onkel zurückholen, aber dann stürzte sie unglücklich die Scheunentreppe hinab und brach sich das Genick. Es war ein tragischer Unglücksfall. So etwas kommt vor. Wenigstens hat auch sie nicht gelitten.“ Pastor Lehmann verstummte und klappte das Buch zu.
Ludwig war der kalte Schweiß ausgebrochen. Was hatte die Mutter vorhin in der Küche gesagt? ‚Wenn ich wieder mal nachhelfen muss...‘. Ja, das waren ihre Worte gewesen. Er leckte die trockenen Lippen und fragte stockend:
„War sie denn ganz allein auf dem Scheunenboden, in ihrem Alter?“
Pastor Lehmann überlegte. „Nun, soviel ich weiß, war deine Mutter bei ihr – aber Junge, was hast du denn?“ Ludwig war bleich geworden. Hastig erhob er sich und verabschiedete sich eilig.
„Vielen Dank für alles, ich muss nun heim!“. Schon war er verschwunden. Den Brief ließ er liegen. Kopfschüttelnd blieb der Pfarrer zurück. Dieser Junge! Er nahm noch einmal das Schreiben und las es langsam durch. Zwischen den Zeilen las er nur eines: Heimweh!
Er erhob sich und steckte den Brief in seine Jackentasche. Dann verschloss er sorgfältig das Pastorat und begab sich nach oben in die Wohnräume, wo in einem hellen Raum seine Frau am Fenster saß und stickte. Frau Klara Lehmann war eine wohlbeleibte Matrone, die mit viel Herz und Verstand ihren großen Haushalt regierte. Ihre zwei Söhne und vier Töchter hatte sie mit fester und liebevoller Hand zu gottesfürchtigen, tugendsamen Menschen erzogen. Als ihr Mann das Pfarramt in Teplitz antrat, nahm sie sich voller Hingabe der Gemeinde an. Ihrem ausgeprägten Organisationstalent war es zu verdanken, dass Erntedankfeste, Christmessen und Ostergottesdienste in einer prachtvoll ausgeschmückten Kirche gefeiert wurden. Resolut regierte sie die Frauen und erwachsenen Mädchen, die den Blumenschmuck herstellten und die Kuchen backten. Auch der Frauenverein stand unter ihrem Zepter. Diese Frauenvereine gab es in fast allen deutschen Gemeinden und erfüllten durchaus einen wichtigen Zweck. Im Winter wurden dort nämlich viele wunderschöne Handarbeiten hergestellt, die dann alljährlich zum Wohle der Wohltätgkeitsanstalten in Sarata und Arzis versteigert wurden.
Als ihr Mann ins Zimmer trat, ließ Frau Lehmann den Stickrahmen sinken und schaute ihm aufmerksam entgegen.
„Na, mein Lieber, was war heute in der Amtsstube zu tun?“, fragte sie im abendlichen Plauderton. „Hast den Haisch-Ludwig dagehabt, oder? Gerade sah ich ihn davonlaufen. Wie der Wind ist er gerannt!“ Seufzend ließ sich der Pastor in einen Sessel sinken.
„Ach, der Junge ist mir ein Rätsel. Erst fragt er mir Löcher in den Bauch und dann rennt er plötzlich weg. Sieh mal, was er mir heute gebracht hat, das dürfte dich interessieren.“ Damit zog er den Brief hervor und gab ihn seiner Gattin, die sofort den Stickrahmen weglegte und sich in das Schreiben vertiefte.
„Ach“, sagte sie dann mitleidig. „Die arme Frau! Da muss man doch etwas unternehmen, Johannes! Glaubst du denn, dass die Familie sie aufnimmt?“
Pastor Lehmann schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall, Klara. Von Rechts wegen ist ja Viktor Haisch nun der Vormund der Kinder, aber ich glaube nicht, dass er dieser Rolle gerecht wird. Die Familie lebt beengt und die Frau ist... sie ist – du kennst sie!“
Die Eheleute wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Nachdenklich überflog die Frau die Zeilen des Briefes.
„Nun ja, man könnte ...ich meine, es wäre bestimmt möglich ...Ich glaube, ich weiß etwas!“ Johannes Lehmann schmunzelte. Wenn er seine Frau so reden hörte, kam alles in die rechten Bahnen, darauf konnte er sich verlassen.
„Man müsste Pflegefamilien für die Kinder finden, oder sogar Adoptivfamilien. Würdest du mit überlegen, welche Familien man ansprechen könnte? Die arme Frau kann so viele Kinder unmöglich allein ernähren. Außerdem brauchen wir Heiratskandidaten. Wie alt wird sie denn sein? Johannes, so sag doch auch mal etwas - und lach mich nicht aus!“ In gespielter Empörung stemmte Frau Lehmann die Fäuste in die Hüften. Ihr Mann saß in seinem Sessel und lachte leise.
„Aber Klara, Liebes. Lass uns vorher überlegen, wie wir die Familie überhaupt aus Cherson nach Teplitz holen. Das ist eine sehr weite Strecke. Vielleicht kümmert sich ja der Haisch darum, aber das ist eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall werden wir das wohl auf einer Gemeindeversammlung besprechen müssen. Ehe das organisiert ist, hast du noch den ganzen Winter Zeit, mit deinem Frauenkränzchen Heiratskandidaten auszusuchen!“ Er lachte wieder. Würdevoll nahm Frau Lehmann wieder ihren Stickrahmen auf. „Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, Johannes! Darüber darfst du nicht scherzen. Eine Frau soll schließlich die treue Gefährtin ihres Mannes sein und dazu müssen sie zusammenpassen. Was die Kinder betrifft – die Kleinsten wird sie wohl behalten wollen. Die Größeren müssen bei gottesfürchtigen, verantwortungsbewussten Menschen untergebracht werden. Es gibt wirklich keinen Grund zum Scherzen!“ Pastor Lehmann stand auf und klopfte seiner Klara begütigend auf die Schulter.
„Nichts für ungut, meine Liebe. Ich weiß ja, dass die Angelegenheit bei dir in den besten Händen ist. Ich will nun zum Primar hinübergehen und die Sache auch mit ihm besprechen.“
Während Frau Lehmann in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne ihr Handarbeitszeug zusammenräumte, machte sich ihr Mann auf den Weg, um den Dorfschulzen aufzusuchen. Der amtierende Primar, Hermann Schenker, versah sein Amt mit Hilfe des Gemeindeschreibers Gustav Müller, welcher als Gemeindesekretär und Gesetzeskundiger eine wichtige Stellung innehatte. Bisweilen fungierte er sogar als Postbote, wie wir wissen. Diese Herren, aus der Mitte der Dorfbewohner auf drei Jahre gewählt, verwalteten die Gemeinde in dieser Zeit nach bestem Wissen und Gewissen. Der Pfarrer hatte jedoch eine Amtszeit von manchmal zwanzig Jahren und war deshalb mit den Belangen der Menschen, mit denen er es zu tun hatte, zutiefst vertraut. Aus diesem Grunde nahm die weltliche Behörde, die ja auch aus gläubigen Männern bestand, nicht selten die Hilfe des Pastors in Anspruch, wenn es die Situation erforderte. Herr Schenker, gerade von Gertrud Haisch heimgesucht, hielt die Situation für erforderlich. So kam es, dass sich der Herr Pastor und der Herr Primar mitten auf der Dorfstraße begegneten und sogleich eine angeregte Unterhaltung begann.
Auch an anderen Orten wurde an diesem Abend über Wilhelmine Haisch und ihre Kinder gesprochen. Die Männer, die aus der Weinschänke heimkehrten, erzählten die Neuigkeit ihren Frauen, und die besprachen es beim abendlichen Klatsch vor den Hoftoren mit den Nachbarinnen. Die meisten Leute, vor allem aber die Frauen, hatten Mitleid