Emilie. Angela Rommeiß
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Inzwischen war es Abend geworden und es trafen immer mehr Männer in der Weinschänke ein. Müde und zufrieden nach einem guten Erntetag, an dem sie Mais und Melonen von den Feldern gefahren hatten, kamen sie einzeln und in Grüppchen, zwirbelten die Schnauzbärte und freuten sich auf den wohlverdienten Feierabend mit einem ordentlichen Glas Wein und einem Schwätzchen unter Nachbarn. Einige kamen direkt vom Feld und hatten draußen ihr Fuhrwerk vor der Tür stehen, Jacken und Hosen aus grobem Tuch waren staubig. Andere hatten vorher zu Abend gegessen und erschienen gewaschen und umgezogen, sozusagen mit dem Segen ihrer Ehefrauen.
Anton Schütze erzählte jedem Neuankömmling sogleich von Jacobs Schicksal. Die Leute liebten Neuigkeiten, deshalb gruppierten sich alle um Viktors Tisch, begierig auf Einzelheiten. Viktor tat die Aufmerksamkeit wohl und er erzählte bereitwillig mehrmals von dem Brief, den Wilhelmine geschrieben hatte, von Gertruds Sturheit und was er jetzt unternehmen wollte - wenn er dürfte. Weil aber alle genau wissen wollten, was in dem Schreiben stand und er es partout nicht mehr zusammenbekam, machten sich ein paar Stunden später mehrere schwankende Männer auf den Weg zu Viktors Haus, um den Brief zu holen. Als der unordentliche Haufen schwatzend durch die Tür drängte, empfing sie eine aufgebrachte Gertrud. Ihre schrille Stimme ließ alle erstarren.
„Was soll der Lärm, dass alle Kinder aufwachen und die Nachbarn aus den Fenstern glotzen? Habt ihr vor, hier weiter zu saufen? Oder wollt ihr erst Viktors Arbeit tun, die er über der Flasche vergessen hat? Dann geht gleich raus, Ställe ausmisten und Wasser tragen!“
Stocksteif standen die Männer, dann schlich sich einer nach dem anderen unter Gertruds Gekeife aus der Tür. Junge, Junge, was für ein Drachen! Der Haisch war wirklich zu bedauern. Viktor, unbeeindruckt, weil abgehärtet, hatte derweil vergeblich auf dem Tisch und dem Ofensims nach dem Brief geschaut. Hatte ihn Gertrud vielleicht weggeworfen? Zuzutrauen wäre es ihr ja. Wie sollte man dann die Adresse herausfinden, unter der Wilhelmine jetzt lebte? Was sollte er den Nachbarn sagen?
„Wo hast du den Brief hingetan?“, fragte Viktor in eine Atempause Gertruds hinein.
Verdutzt hielt sie inne. Aber nicht lange.
„Den Brief?“, schrillte ihre Stimme. „Wo ich den Brief hingetan habe? Das wollte ich dich gerade fragen, mein Lieber. Den ganzen Abend habe ich ihn gesucht! Der Primar will ihn sehen, damit er Schritte unternehmen kann!“ Gertrud machte eine bedeutungsvolle Pause, damit sie Viktors verblüfften Gesichtsausdruck genießen konnte.
„Du - du warst beim Primar? Was denn für ... Schritte?“, fragte Viktor lahm. „Ich denke, du willst nicht, dass sie heimkommt?“
Gertrud lachte meckernd. „Das wird sie auch nicht. Ich habe heute auf dem Gemeindeamt in den Büchern nachschlagen lassen. Die Erbverhältnisse sind klar - Jacob ist ausbezahlt. Seinen Kindern steht in diesem Hause kein Wohnrecht zu, Vormund hin oder her. Gott sei Dank haben wir damals alles schriftlich gemacht und Jacob unterschreiben lassen.“
Viktor setzte sich langsam. Er war plötzlich wieder nüchtern.
„Und wo sollen sie dann hin?“, fragte er. Was hatte Gertrud nur wieder ausgeheckt? Seine Frau stützte sich auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor.
„Hab nur keine Angst um deine Familie!“, sagte sie spöttisch. „Es geht ihnen dort besser als du denkst, glaube mir. Wilhelmine war halt schon immer ein bisschen wehleidig veranlagt. Wahrscheinlich hat sie längst wieder einen neuen Mann gefunden und bereut es schon, dass sie um Hilfe geschrieben hat. Niemand wird sich bereitfinden, sie heimzuholen. Das dauert ja Wochen! Wer soll so lange seine Wirtschaft im Stich lassen? Siehst du – das geht gar nicht.“ Als wäre Viktor ein törichtes Kind, so redete sie ihm zu. Doch jetzt wurde ihre Stimme schärfer. „Und wenn sie trotzdem irgendwann hier auftauchen sollte, habe ich vorgesorgt!“ Selbstgefällig verschränkte Gertrud die Arme vor der mageren Brust.
„Wie denn?“, fragte Viktor und wollte es doch eigentlich gar nicht wissen.
Gertrud lächelte liebenswürdig. „Nun, für Wilhelmine wird ein Mann gefunden, und ihre Kinder wachsen da auf, wo schon ihre Mutter großgeworden ist.“
„Was, im Waisenhaus?“, fuhr Viktor auf.
Das Alexander-Asyl in Sarata war eine Barmherzigkeitsanstalt mit Abteilungen für Alte, für Waisenkinder und für pflegebedürftige Geistesschwache. Die Anstalt war auf milde Gaben angewiesen und oft fehlte es am Nötigsten. Deshalb protestierte Viktor:
„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Im Waisenhaus ist das Leben noch härter als auf einem Bauernhof, das weißt du genau!“
„Wilhelmine hat es ja wohl kaum geschadet!“, entgegnete Gertrud bissig.
„Aber wie kann man die Kinder weggeben, es sind doch meine Nichten und Neffen und keine Waisen. Niemand wird sie dort gern haben ...“
„Hier auch nicht!“, erwiderte Gertrud schroff. „Wenn wir alle Glück haben, kommen sie gar nicht hierher. Und nun genug gejammert, gib den Brief heraus, ich brauche ihn!“
„Ich habe ihn nicht, so glaube es doch. Ich habe ihn nicht mitgenommen, als ich ging, und du warst vor mir zu Hause. Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist!“ Gertrud und Viktor suchten nun sogar gemeinsam alles ab, doch der Brief blieb verschwunden.
Ludwig lag wie seine Geschwister wach im Bett und lauschte dem lautstarken Streit seiner Eltern. Es war ja nicht der erste. Ludwig wusste, wo der verschwundene Brief war. Am späten Nachmittag, als sein Vater in die Weinschänke und seine Mutter beim Schulzenamt gewesen war, hatte er den Pfarrer aufgesucht – mit dem Brief.
Ein furchtbares Geheimnis lag seitdem wie eine Zentnerlast auf seiner Brust.
Langsam senkte Herr Pastor Johannes Lehmann das Papier und nahm die Brille ab.
„Das ist ja wirklich sehr schmerzlich für deine Familie, mein Junge.“, sagte er mit seiner angenehmen, tiefen Stimme zu Ludwig, der vor ihm auf einem Stuhl hockte und die Mütze in den Händen drehte.
„Von wo kommt denn dieser Brief?“, fragte der Pfarrer und blickte auf die Rückseite des Umschlages. „Cherson!“, rief er aus. „So weit weg! Das muss ja fast bei der Krim sein. Wie um alles in der Welt hat es denn deinen Onkel dorthin verschlagen?“
Ludwig zuckte nur mit den Schultern. Seit er die Konfirmandenschule besuchte, war er öfter danach freiwillig zum Aufräumen dageblieben. Dem Pfarrer fiel auf, dass der Junge offensichtlich nur ungern nach Hause ging. Als guter Pfarrer erkannte er eine verstörte Seele, wenn er eine traf und als Vater von sechs Kindern wusste er mit Jugendlichen umzugehen. Mit freundlicher Anteilnahme gelang es ihm nach und nach, Ludwigs Vertrauen zu gewinnen. Seitdem war er der Ansprechpartner des Jungen bei all seinen Problemen. Pastor Lehmann war also mit der familiären Situation im Hause Haisch einigermaßen vertraut. Zögernd begann Ludwig zu sprechen.
„Vater will ihr schon helfen, aber er wagt es nicht. Ich glaube nicht, dass er was auf die Beine stellt. Die Mutter hat eine Wut auf die Tante. Wissen sie warum? Sie kannten sie doch, oder?“
Pastor Lehmann nickte, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schob die Daumen in die Weste. Sein Blick war an die Zimmerdecke gerichtet, als suche er dort nach längst vergessenen Gesichtern.
„Es war eine sehr angenehme junge Frau, gerade zwanzig Jahre alt. Man konnte sie eigentlich nur mögen. Sie war eine Waise und dein Onkel hat sie bei einem Fest in Sarata kennengelernt,