Emilie. Angela Rommeiß
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„Bald seid ihr weg – alle, alle weg!“ Die dünne Greisinnenstimme wurde lauter. „Wirst beim Satan wohnen – du!“, und dabei schaute sie Emilie fest in die Augen. Das Mädchen überlief es eiskalt. Schnell rannten sie ins Haus, obwohl noch einige Sachen draußen lagen. Emilie knallte die Tür zu und lehnte sich schwer atmend dagegen. Verstört drängten sich Selma und Eduard an ihre Beine. Paula war auf die Fensterbank geklettert und streckte die Zunge heraus.
„Paula, lass das!“, rief Emilie erschrocken und schloss schnell das Fenster. Sie wusste selber nicht, warum sie so aufgeregt war. Sonst nahmen sie die Alte nicht besonders ernst, wie überhaupt kaum jemand im Dorf. Doch heute war es anders.
‚Du wirst beim Satan wohnen! ‘ Was mochten diese Worte nur bedeuten? Emilie war bedrückt. Eine dunkle Vorahnung legte sich wie ein Schatten auf ihr unbekümmertes Gemüt.
Sie brachten den Vater auf einer Trage. Die Mutter hielt sich die Schürze vor den Mund und hatte verweinte Augen. Jacob stand hilflos im Wege herum. Emilie und Paula drückten sich verzagt an die Wand, als die vier Männer die Trage durch die enge Tür, am Tisch vorbei und in die Schlafkammer bugsierten. Keiner sprach ein Wort. Gingen sonst Besucher fort, brachte die Mutter sie vor die Tür, scherzte und grüßte die Daheimgebliebenen. Jetzt blieb sie in der Schlafkammer sitzen und kümmerte sich nicht um die Männer, die schweigend und mit versteinerten Gesichtern hinaus stapften.
Die Kinder versammelten sich still um die Mutter. Jacob Haisch lag im Sterben.
Sie hatten ein junges Ross beschlagen. Als Jacob den hinteren Huf anpassen wollte, ließ ein Gehilfe ein glühendes Stück Eisen fallen, das dem ängstlichen Tier direkt vor die Vorderfüße rollte. Das erschrockene Pferd keilte aus und versetzte Jacob einen kräftigen Tritt vor die Brust. Die Herbeieilenden hoben ihn auf, aber er stöhnte vor Schmerzen. Wahrscheinlich waren einige Rippen gebrochen oder die Lunge gequetscht. Der Pferdedoktor, der sich mit gebrochenen Rippen auskannte, betastete Jacobs Brust, schaute in dessen wachsbleiches Gesicht mit den blauen Lippen und stand auf.
„Ruft die Frau!“, sagte er leise zu den Umstehenden. „Es geht zu Ende.“
Eine Rippe hatte die Lunge durchbohrt. Der Transport gestaltete sich äußerst schwierig und dauerte lange, weil den Verletzten jede Bewegung schmerzte. Jetzt lag er hier und keuchte mühsam. Seine Familie stand und saß um ihn herum, alle weinten. Eine halbe Stunde später verlor Jacob das Bewusstsein. Kurz darauf trat blutiger Schaum aus seinem Mund, er röchelte qualvoll und verstarb. Emilie stand wie erstarrt am Fußende des Bettes und hielt sich die Ohren zu. Niemals würde sie diesen Anblick und diese schrecklichen Geräusche vergessen.
Jacob zog die schluchzende Paula aus dem Zimmer. Glücklicherweise schliefen die Zwillinge bereits in dem Kämmerchen, welches mit Decken von der Küche abgeteilt war. Die Mutter saß auf einem Hocker neben dem Bett, immer noch die Schürze an den Mund gepresst und wiegte sich vor und zurück. Zaghaft legte ihr Emilie eine Hand auf die Schulter. Wilhelmine zuckte zusammen, dann schien sie zu erwachen. Sie nahm Emilies Hand in die ihre und legte sie sich an die Wange.
„Was soll nun werden?“, fragte sie leise. „Ach, Kind, was soll nun aus uns werden?“
Hilflos strich ihr Emilie übers Haar. Sonst war es immer die Mutter, die Trost spendete. Wilhelmine lächelte ihre Tochter dankbar an. Es wurde nur ein kleines Lächeln, aber es gab Emilie wieder Mut. Auch die Mutter fasste sich. Entschlossen stand sie auf und beugte sich über ihren toten Mann. Mit einem Tuch wischte sie ihm zärtlich das Blut aus dem Gesicht.
„Jacob!“, rief sie ihren Ältesten. Der stand sofort in der Tür. „Geh nach Cherson und hole den Pfarrer. Erzähle ihm, was passiert ist, er wird alles Nötige veranlassen.“ Jacob nickte nur und verschwand. Er war froh, etwas tun zu können und aus dem Haus zu kommen, obwohl es schon finstere Nacht war.
„Emilie!“, wandte sich die Mutter an die Tochter. „Heize den Herd an, ich brauche warmes Wasser. Dann holst du aus der Truhe die guten Sachen vom Vater. Du weißt schon, das weiße Hemd und den dunklen Anzug. Paula soll dir helfen.“
Wilhelmine entkleidete ihren Mann, wusch, kämmte und rasierte ihn sorgfältig. Obwohl es schon sehr spät war und die beiden Mädchen sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten, gingen sie ihrer Mutter ernst und schweigend zur Hand. Als der Pfarrer kam, hatte Jacob Haisch seinen Sonntagsstaat angelegt und die Hände auf der Brust gefaltet. Die Mutter rief die Kinder herein, damit sie von ihrem Vater Abschied nehmen konnten.
Auf dem kleinen katholisch-orthodoxen Friedhof fand sich eine Ecke für Jacob Haisch.
Neben einem reisenden Händler, der auch evangelisch-lutherischen Glaubens gewesen war, und einem jüdischen Apotheker fand er in einer einfachen Holzkiste seine letzte Ruhe. Ein schlichtes Holzkreuz zierte sein Grab. Für einen Sarg und einen Stein fehlte das Geld.
Einige Nachbarn hatten sich zum Begräbnis eingefunden. Sogar die verrückte Alte war da, die den Kindern solche Angst eingejagt hatte. Emilie blickte scheu zu ihr hin, aber sie war heute ganz friedlich. Sie ging gern zu Beerdigungen und versäumte keine einzige.
Als Wilhelmine mit ihren Kindern gebetet hatte und sich endlich zum Gehen wandte, trat schüchtern ein junger Mann auf sie zu, der sich die ganze Zeit im Hintergrund aufgehalten hatte. Es war der Gehilfe, der das Pferd erschreckt hatte. Schuldbewusst versicherte er der Witwe sein Beileid, seine Worte kamen stockend. Schließlich brach er in Tränen aus. Wilhelmine legte ihm die Hand auf den Arm und beruhigte ihn.
„Grämen sie sich nicht, mein Junge. Ich werfe ihnen nichts vor. Leben und Tod liegen einzig und allein in Gottes Hand!“
Emilie blickte zu ihrer Mutter auf. Wie tapfer und großherzig sie war! Selbst in ihrer tiefen Trauer war sie imstande, demjenigen Trost zu spenden, der den Tod ihres Mannes verursacht hatte.
Wasile, so hieß der junge Bursche, erschien danach regelmäßig bei den Haischs. Mal brachte er einen Korb voll Eier, mal frischgebackene Maisfladen von seiner Mutter. Er hackte Holz, reparierte kaputte Dinge und grub im Herbst den kleinen Acker hinter dem Haus um. Wilhelmine war sehr froh über die Hilfe, die sie in dieser schweren Zeit von Wasile und seinen Eltern erfuhr. Sonst gab es aber im Dorf nicht besonders viel Aufmerksamkeit für die deutsche Familie. Es waren schließlich zugezogene Fremde und damit Außenseiter. Sie sprachen untereinander eine seltsame Sprache und bereiteten ihr Essen ganz anders zu als die Einheimischen. Man tolerierte sie zwar, aber richtig zugehörig waren sie nicht.
Wilhelmine belastete dieser Zustand sehr. Seit Jahren sehnte sie sich schon nach zu Hause. Als Jacob noch da war, fand sie bei ihm Halt und Schutz. Er ersetzte ihr die Heimat. Doch jetzt, so ganz allein und für fünf Kinder verantwortlich, fühlte sie sich oft so einsam und überfordert, dass sie sich nachts in den Schlaf weinte. Immer öfter bemerkte sie, dass sich ihre Kinder untereinander in der Landessprache unterhielten. Selbst zu Hause schlichen sich in deutsche Sätze russische Wörter ein. Eigentlich war es ja gar nicht verwunderlich, dass sich die Kinder ihrer Umgebung anpassten. Gerade das ist ja die große Stärke von Kindern – sie können sich anpassen. Sie wuchsen schließlich hier auf und kannten es nicht anders. Wilhelmine wollte aber, dass ihre Kinder Deutsche blieben, denn sie selbst war kein Kind mehr und konnte und wollte sich niemals von ihrer deutschen Vergangenheit lösen. Schon oft hatte sie versucht, mit ihrem Mann über dieses Thema zu sprechen, doch er war uneinsichtig geblieben. Nun war er aber tot, hatte sie und die Kinder mittellos zurückgelassen und Wilhelmine