Emilie. Angela Rommeiß
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Aber, ach, wie weit war es bis nach Hause! Immer, wenn sie weitergezogen waren, entfernten sie sich weiter von der Heimat, bald waren es über vierzig Meilen (fast dreihundert Kilometer) bis Teplitz. Die Nachricht vom Tod der Eltern erreichte Jacob erst, als die schon unter der Erde waren. Gertrud, die derweil noch zwei Kinder bekommen hatte, machte in ihrem Brief unmissverständlich klar, dass sie eine Heimkehr des Schwagers nicht gutheißen würde. Es ginge ihnen ja auch viel besser in der Fremde als hier in Teplitz, schrieb sie scheinheilig. Jacob verfiel nach dieser Nachricht in ein dumpfes Brüten. Wilhelmine steckte den Brief ins Herdfeuer und bemühte sich, ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen.
Die Kinderschar war mittlerweile auf fünf angewachsen, was in der damaligen Zeit, anders als heute, als Gottes Segen empfunden wurde. Sie erzogen ihre Kinder im evangelischen Glauben und sprachen mit ihnen deutsch. Natürlich konnten sich die Kinder auch in der Landessprache verständigen. Oftmals mussten sie für die Mutter übersetzen, der die neue Sprache schwerfiel. Ihr Mann war bei seiner Arbeit mehr unter Menschen und konnte sehr gut russisch. Wenn er als Schmied keine Arbeit fand, nahm der Vater allerlei Stellungen an. Er galt als zuverlässig und war handwerklich geschickt. Die Mutter baute auf dem kleinen Acker hinter dem Haus Gemüse, Arbusen (Wassermelonen) und Hülsenfrüchte an. Als Jacob und Emilie, die beiden Großen, alt genug waren, konnten sie zur Erntezeit bei den Bauern helfen. Das brachte auch ein paar Münzen oder Lebensmittel ein. So ging es der Familie in dieser Zeit gar nicht schlecht. Sie hatten sogar eine Kuh angeschafft und allerlei Federvieh tummelte sich auf dem Hof. Das Häuschen war allerdings nur gepachtet und das Pferd derweil gestorben. Doch mit Gottvertrauen und Zuversicht gedachte Wilhelmine, ihre Kinder zu guten Menschen zu erziehen, auch wenn es im Leben keinen Reichtum zu erringen gab.
Ihr Mann sah das ganz anders. Seine Abenteuerlust hatte sich merklich abgekühlt und er haderte mit seinem Schicksal. Wie gerne wäre er als strahlender Held nach Hause zurückgekehrt, mit zwei prachtvollen Pferden vor einem nagelneuen Wagen, gutgenährten Kindern und einer Frau in Kleidern, die sie im Geschäft gekauft und nicht selbst genäht hatte. Doch statt Geld hatte er nur Löcher in der Tasche. Die Enttäuschung über sein scheinbar erfolgloses Leben hatte aus dem einst so lebensfrohen jungen Mann einen wortkargen, mürrischen Sonderling gemacht.
Emilie ging nach Hause.
Das Blechtöpfchen, in dem das Mittagessen gewesen war, klapperte müde an ihrer rechten Hand, in der linken hing das buntgeblümte Kopftuch. Die nackten Füße wirbelten kleine Staubwölkchen auf dem trockenen Feldweg hoch. Das dürre Gras, die Stoppelfelder, die kleinen weißgetünchten Häuschen bekamen von der untergehenden Sonne einen orangeroten Schimmer. Schön sah das aus! Der mächtige Fluss, dem sie entgegenging, glänzte wie flüssiges Silber. Emilie träumte und schlurfte langsam heimwärts. Obwohl sie staubig war und es überall von der Spreu juckte, hatte sie es nicht eilig. Zu Hause gab es immer genug zu helfen für die älteste Tochter – und heute waren die Hände besonders zerschunden. Die Mutter würde etwas Fett drauf streichen müssen. Ob es heute grüne Riebela gab? Diese Kohlsuppe mit Mehlklößchen aß Emilie gern. Natürlich ging nichts über ein Stück Fleisch auf dem Teller, oder süße Nudeln...! Emilies Magen knurrte. Meistens machte die Mutter Brei oder Suppe. Wegen der kleinsten Geschwister und seit der Vater so schlechte Zähne hatte.
Emilie stellte das Töpfchen auf der Treppe neben der Haustür ab und ging zum Brunnen. Als das Schöpfrad quietschte, sprang die Haustür auf. Jacob kam heraus, an jeder Hand einen Zwilling. Die sechsjährige Paula drängelte hinterdrein.
„Wo bleibst du nur?“, rief der Bruder. „Nimm mir mal die Blagen ab, ich muss zur Schmiede. Der Vater hatte einen Unfall, Mutter haben sie vor ner Viertelstunde geholt!“
Emilie stand wie erstarrt. „Was – wie ...?“, stammelte sie, doch Jacob war schon davongerannt. Man sah nur noch seinen braunen Schopf über einer Staubwolke, aus der die nackten Sohlen blitzten, dann war er fort.
Das war doch wieder typisch, als ob sie den dort gebrauchen konnten! Seufzend nahm Emilie die Zwillinge bei den Händchen. Selma und Eduard waren erst zwei Jahre alt und sehr zarte Kinder. Emilie wusste noch, wie schwer die Geburt gewesen war. Die Zwillinge schienen unbedingt gleichzeitig auf die Welt kommen zu wollen. Dann sah es für ein paar Tage so aus, als wollten sie die Welt gleich wieder gemeinsam verlassen. Auch um das Leben der Mutter mussten sie bangen. Nun bangte Emilie um den Vater. Nicht, dass sie ihn besonders liebte. Der Vater war meistens mürrisch und abends müde. Mit seinen Kindern wusste er nichts anzufangen, solange sie klein oder Mädchen waren. Bisweilen verteilte er Schläge, wenn es ihm nötig erschien, damit war seine erzieherische Tätigkeit erschöpft. Von der Mutter bekamen sie höchstens mal einen Klaps.
Das Mädchen öffnete ein Fenster, weil es im Raum stickig war. Ein kühler Abendhauch tat gut nach dem heißen Tag. Was mochte nur passiert sein? Emilie war unruhig. Sie nahm einen Lappen aus der Schüssel und wischte über den groben Holztisch. Ach, wahrscheinlich war es nicht so schlimm. Der Vater würde die nächsten Wochen mit einem gebrochenen Bein im Bett liegen und alle herumkommandieren. Emilie hob die kleine Selma auf ihr Stühlchen und schaute nach dem Herd. Paula und Eduard balgten sich auf dem Fußboden herum.
Das Feuer war ausgegangen, aber die Suppe war noch warm. Emilie hob den Deckel und schnupperte in den Topf. Sie zog die Nase kraus. Kein einziges Fettauge schwamm auf der dünnen Brühe! Die Mutter hatte sicherlich nichts dagegen, wenn sie einen Kanten Brot dazu aßen.
„Sei ein großes Mädchen und setz Edi auf den Stuhl!“, rief Emilie der Schwester zu.
„Ja, ja!“, antwortete Paula und kitzelte Eduard am Bauch. Der kreischte und rannte mit dem Kopf gegen den Schrank. Emilie musste pusten, damit es nicht mehr wehtat. Als endlich alle am Tisch saßen und die Suppe in den Schüsseln war, wurde es still. Nur die Löffel klapperten ihr hungriges Lied. Paula hatte ihr Kinn fast in die Schüssel gesenkt und zwinkerte fröhlich ihre Schwester an. Paula war ein lustiges kleines Ding mit Sommersprossen auf der kecken Nase. Auch Jacob und Eduard hatten solche Sommersprossen und rotbraunes Haar. Emilie und Selma waren blond und zarthäutig wie die Mutter. Die Älteste fütterte die Kleinen. Abwechselnd bekam jeder einen Löffel Suppe in den Mund: Emilie – Edi – Emilie – Selma - Emilie. Ganz gerecht war es zwar nicht, aber nach dem arbeitsreichen Tag auf dem Feld hatte Emilie einen Riesenhunger. Wie zwei Vögelchen sperrten die Kleinen geduldig die Mäulchen auf, bis sie wieder an der Reihe waren. Auf Edis Stirn leuchtete eine Beule, aber zum Glück hatte er sie vergessen. Nach einer Weile wollte Selma nicht mehr essen, ihr fielen schon die Äuglein zu.
„Ob ich sie gleich so ins Bett lege – ohne Waschen?“, fragte Emilie Paula und blickte zweifelnd die Kleinen an.
„Ohne Waschen!“, rief Paula und klatschte in die Hände. Aber der staubige Sommertag hatte seine Spuren hinterlassen, alle drei mussten gewaschen werden. Emilie hatte sich ja selbst noch nicht einmal erfrischt. Draußen am Brunnen wurde Selma wieder munter. Quietschend rannte sie mit ihren Geschwistern nackt um den Brunnen, aus dem Emilie Wasser schöpfte und immer mal dem einen oder dem anderen einen Guss verpasste. Dann wusch sie sich selber, sammelte die Kleinen ein und wollte ins Haus. Plötzlich erschien am Gartenzaun zwischen den Büschen ein runzliges, altes Gesicht. Es war die Nachbarin, eine verrückte Alte, die leicht zornig wurde und dann mit dem Teufel drohte. Sie mochte der Grund dafür gewesen sein, dass man ihnen diese Hütte so billig vermietet hatte. Die Mutter hielt die Kleinen tunlichst von ihr fern, auch Emilie und Jacob gingen ihr nach Möglichkeit aus dem