Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe. Peter Urban
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Читать онлайн книгу Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe - Peter Urban страница 24
Arthur hatte kaum zu atmen gewagt. Als das Schauspiel vorüber war, drehte Charlotte sich zu ihm hin und lächelte ihn zufrieden und glücklich an. »Das war der bengalische Königstiger, mein Freund. In diesen Sümpfen gibt es viele von ihnen, aber sie sind so scheu und leben so zurückgezogen, dass man sie eigentlich nur beim Trinken beobachten kann ... und das auch nur, wenn man weiß, an welchen Stellen sie zum Fluss kommen.«
»Sie sind wunderschön, Charlotte. Sie sehen so ganz anders aus als die räudigen Katzen, die auf den Stichen und Gravuren in meinen Büchern zu sehen sind.«
»Kaum einer, der einen Königstiger zu zeichnen versuchte, hat wirklich einen gesehen, Arthur. Die meisten Gelehrten, die Fauna und Flora des Subkontinents erforschen, begegnen nur dem gewöhnlichen indischen Tiger oder Bergtigern. Der bengalische Königstiger aber ist der seltenste und der edelste. Es ist ein Privileg, ihn in seinem natürlichen Umfeld beobachtet zu haben. Selbst wenn du noch zehn Jahre in diesem Land verbringen solltest ... es ist unwahrscheinlich, dass du je wieder einem so prächtigen Exemplar begegnen wirst wie diesem riesigen Männchen. Auch ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen, obwohl ich oft in die Sunderbans komme.« Das Mädchen tauschte ein paar Worte in der sonderbaren Sprache mit ihrem Freund Boubah aus. Der Khasi schüttelte den Kopf. »Auch er hat den Riesen heute zum ersten Mal gesehen, obwohl er in diesen Sümpfen lebt. Du scheinst ein Glückskind zu sein, Wesley! Boubah sagt, es sei ein gutes Omen, den König selbst gesehen zu haben.«
Nach einem schlichten Abendessen vor Boubahs Hütte, bei der Arthur auch die Frau des Inders und seinen Schwarm munterer Kinder kennenlernte, machten die beiden Briten sich wieder auf den Rückweg nach Kalkutta. Doch Charlotte schlug eine andere Route ein als am Nachmittag. Der Sternenhimmel war klar, und obwohl bereits die Nacht hereingebrochen war, erleuchtete ein abnehmender Mond die Umgebung.
In ruhigem Schritt trotteten die beiden Pferde an einem breiten Flusslauf entlang in Richtung Stadt. So schweigsam und geheimnisvoll Sir Edwin Halls Tochter auf dem Weg in die Sunderbans gewesen war, so gesprächig wurde sie nun. Sie erzählte Arthur ausführlich über die anderen sonderbaren Tiere, die diese Küstenlandschaft bevölkerten – ein Gemisch aus Süß- und Salzwasser, denn die Flüsse vermengten sich in ihren Mündungsgebieten mit Meerwasser im Golf von Bengalen. Deshalb gab es hier große Wasserschildkröten und einen Delphin, den die Hindus als heiliges Tier verehrten. Charlotte erklärte Arthur, dass es sich dabei allerdings bloß um einen rosafarbenen, rammsköpfigen Süßwasser- oder Gangesdelphin handelte, der ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit sein musste und eigentlich gar nichts Heiliges an sich hatte.
Über die Fauna und Flora kam sie auf die buntgemischte Bevölkerung Bengalens zu sprechen, auf die Vielzahl unterschiedlicher Religionen, die jedoch friedlich miteinander lebten, auf das Sprachgewirr und die unzähligen Dialekte, und schließlich auf die eigentümliche Geschichte dieses Teils des Subkontinents. Arthur hörte ihr gebannt zu. Charlotte glich einer wandelnden Enzyklopädie, und so erfuhr der Offizier, dass die junge Frau nicht nur Hindustani sprach und den sonderbaren Dialekt der Khasis, sondern auch noch Farsi und Kannada, einen Dialekt, der in Orissa und bis hinunter in den Karnatik gebräuchlich war. Es war schon spät am Abend, als sie wieder in Chowringee eintrafen. Ein bengalischer Bursche schien die beiden erwartet zu haben, denn er nahm ihnen die Pferde ab und führte sie zum Stallgebäude des Anwesens von Sir Edwin. Charlotte zog sich den Turban mit einer lässigen Bewegung vom Kopf und schüttelte kräftig ihr langes Haar, bevor sie Wesley bedeutete, ihr ins Haus zu folgen.
Mit einem Mal war aus dem abenteuerlustigen Wesen, das ihn den ganzen Nachmittag begleitet hatte, wieder eine wohlerzogene Tochter aus guter Familie geworden. Arthur kam sich in seiner einheimischen Verkleidung plötzlich fehl am Platze vor. Doch man schien an alles gedacht zu haben. Lord und Lady Hall erwarteten die jungen Leute im Salon, und nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung geleitete der alte Majordomus des hohen britischen Beamten Arthur in ein Gästezimmer, in dem seine Uniformjacke und seine übrigen Kleidungsstücke samt Waffe ordentlich ausgebreitet auf einem Bett lagen. »Gewiss möchten Sie sich vor dem Dinner ein wenig erfrischen, Sir!« erklärte der Bedienstete und wies auf ein Badezimmer, in dem ein mit Wasser gefüllter Zuber stand. »Miss Charlotte wird sich ebenfalls umkleiden. In einer halben Stunde erwarten Mylord und Mylady Sie unten im Salon.«
Als Arthur schließlich auftauchte – in der offiziellen Verkleidung eines ordentlichen britischen Offiziers –, war Charlotte bereits bei ihren Eltern und erzählte munter vom gemeinsamen nachmittäglichen Ausflug in die Sunderbans. Lebhaft schilderte sie ihrem Vater und ihrer staunenden Mutter die Begegnung mit dem riesigen bengalischen Königstiger und seiner Gefährtin.
Der Richter und seine Frau machten auf Arthur den Eindruck, als würde die Abenteuerlust ihrer Tochter sie nicht im Geringsten beunruhigen. Sir Edwin winkte Arthur freundlich an seine Seite, und ein Mädchen in schwarzem Kleid mit ordentlich gestärkter weißer Schürze und Spitzenhaube bot ihm ein Glas Portwein an.
»Dann habt ihr zwei euch also gut amüsiert«, wandte Sir Edwin sich an Arthur.
»Es war beeindruckend, Mylord. Ich habe kaum zu atmen gewagt, als der Riese uns gegenüberstand. Ein prachtvolles Tier.«
»Ich bin jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Land und habe noch immer keinen Königstiger gesehen.« Sir Edwin schmunzelte. »Charlotte hütet ihre kleinen Geheimnisse sehr eifersüchtig und erklärt mir andauernd, dass solch verwegene Ausflüge sich in meinem Alter nicht mehr geziemen.«
»Das ist nicht fair von dir, Papa! Wir waren letztes Jahr zusammen fast zehn Tage unterwegs, nur weil du dir in den Kopf gesetzt hattest, Schneeleoparden zu suchen. Erinnerst du dich noch? In Bagdogra hätten wir beinahe Ärger bekommen, und der alte Hickey wollte uns den Kopf abreißen, weil wir illegal die Grenze zum Sikkim überschritten hatten.«
»Eine engstirnige Krämerseele, der gute William. Als ob zwei Briten dem König in Gangtok gefährlich werden könnten ... Ich bin sicher, dass >John Company< in die Hände geklatscht hätte, hätten sechshundert Mann im roten Rock sich bis in den Schnee vorgewagt.«
Sir Edwin hatte mit einem Mal nichts mehr von einem seriösen, ehrwürdigen britischen Beamten an sich. Seine Augen funkelten vergnügt, und in seinem Gesicht stand der pure Übermut geschrieben. »Lasst uns bei Tisch weiterreden«, meldete Lady Hall sich zu Wort. »Oberst Wesley muss nach einem so anstrengenden Tag hungrig sein. Und wenn er es nicht ist ... mir knurrt jedenfalls der Magen.«
Auch beim Abendessen ging es im Haus der Halls locker und wenig förmlich zu. Charlotte und ihr Vater warfen sich Schlagworte zu, und jeder erzählte Anekdoten über lustige oder denkwürdige Erlebnisse, die sie im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen durch den nördlichen Teil des Subkontinents gehabt hatten. Lady Hall lächelte Arthur zu und erklärte ihm kopfschüttelnd, dass ihr Mann und ihre Tochter nicht besonders ernsthaft und wohlerzogen seien, denn sie mussten sich dauernd an Orte begeben, an die anständige Briten sich nicht wagten. Verkleidungskomödien waren an der Tagesordnung, und selbst Lahore, Lucknow und Amritsar waren vor ihnen nicht sicher gewesen, obwohl diese Gebiete nicht zum britischen Herrschaftsgebiet zählten. »Wie kommt es eigentlich, dass ein Jurist so gut die Landessprachen spricht?« wollte Arthur wissen.
»Wenn es in den unabhängigen Fürstentümern zu Konflikten kommt, gelten wir sozusagen als neutrale Vermittler. Ich bin schon mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem Subkontinent ... außerdem sind die Personen, mit denen ich in Rechtsfragen zu tun habe, in den seltensten Fällen Briten. Oft geht es darum, dass irgendjemand >John Company< irgendetwas nicht oder beschädigt geliefert hat, oder die Angestellten von Hickey haben mal wieder zu spät oder zu wenig gezahlt, und der indische Lieferant hat eine Klage eingereicht. Aber jetzt haben wir genug von mir geredet, Oberst Wesley. Wir sehen Sie so häufig in unserem Haus und wissen immer noch nicht, wer der junge Mann, dem unsere Tochter