Der EMP-Effekt. Peter Schmidt

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Der EMP-Effekt - Peter Schmidt

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Bahnhof geöffnet. Einzelne Männer schlenderten ziellos durch die Halle; drinnen war es zwar nicht geheizt, aber wärmer als draußen.

      Ein Zug von Verlorenheit lag jetzt um Mitternacht auf ihren Gesichtern …

      Karga dachte, dass er sich immer noch in seine Arbeit flüchten konnte, auch an den Wochenenden und Abenden, falls er jemals die innere Leere verspüren sollte, hier herumzulungern. Er kaufte belegte Brötchen, Dosenbier und ein paniertes Kotelett. Beim Zahlen rollte ihm das Wechselgeld in die Auslage, die Frau hinter der Theke suchte eine Weile vergeblich zwischen den Käsestücken und weichgewordenem Stangenbrot – schließlich gab Karga es auf.

      «Betrachten Sie es als Trinkgeld», sagte er.

      Als er wieder auf dem Gehsteig stand, fielen eigentümlich blinkende, winzige Schneeflocken wie der Glimmer von Weihnachtsbäumen. Es mußte mit dem Wetterumschwung zusammenhängen, denn einige Schritte weiter hatte sich alles schon wieder verloren, und laue Windböen trieben die Straße von der Uferpromenade herauf.

      Thaubes Haus war ein hellhöriger Neubau, zurückgesetzt in einer Reihe alter Häuser. Umlaufende Betongalerien, die so dicht mit Sprüchen aus der Spraydose verziert waren, dass man glauben konnte, in ein verfilztes Buschgestrüpp zu treten, hatten das fade Bild des rechteckigen Kastens etwas auflockern sollen.

      Doch diese Absicht war derart gründlich misslungen, dass einige Wohnungen jetzt leer standen.

      Während er die letzten Stufen nahm, wurde ihm unvermittelt bewusst, dass seine Freundschaft zu Thaube den Staatsschützern vielleicht Anlass zu Verdächtigungen bot. Diesen Gesichtspunkt hatte er noch gar nicht bedacht. Zu Verdächtigungen … aber zu welchen?

      Er besaß einen eigenen Wohnungsschlüssel. Thaube war so schwach auf den Beinen, dass ihm das Öffnen der Tür Mühe bereitete. Nur wenn die Tageszeitungen kamen, setzte seine Schwäche für Augenblicke aus, dann saß er aufgerichtet im Bett und beklagte lautstark die politische Korruption im Lande. Er zeigte zwar alle typischen Symptome der Krankheit: geschwollene Drüsen, Gewichtsverlust, Fieberanfälle und Schweißausbrüche, gelegentlich auch Anzeichen von Verwirrung; trotzdem ließ Karga sich nicht davon abbringen, dass sein eigentliches Leiden eine eigentümliche Willenlosigkeit war – welcher Ursache, das hatte er noch nicht herausgefunden.

      In dem abgedunkelten Zimmer stand die Luft. Es roch nach einer undefinierbaren Mischung, die von allem möglichen herrühren konnte: von Schweiß, japanischem Heilpflanzenöl, schmutzigen Socken und verschüttetem Bier.

      Trotz seiner vierzig Jahre erinnerte Thaubes Kopf über dem Oberbett an einen gerade volljährig gewordenen Jungen.

      «Leg‘s da hinten ab», sagte er und hob mit einer schwächlich wirkenden Gebärde den Arm. «Und komm mir nicht zu nahe. Ich glaub, ich hab gerade wieder einen Bakterienschub.»

      «Unsinn. Erstens weiß man gar nicht, um welche Art von Erreger es sich handelt, vielleicht ein Virus, und zweitens ist es nicht so ansteckend, wie du glaubst.»

      Kargas Augen gewöhnten sich langsam an das Halbdunkel, erließ den Blick über das Durcheinander im Zimmer gleiten.

      Dann zog er mit einer schnellen Bewegung die Gardine auf, um zu lüften.

      Im selben Augenblick gewahrte er auf der gegenüberliegenden Hausseite eine Bewegung. Es war ein Fenster in der gleichen Etagenhöhe. Ein mattglänzender, zylindrischer Gegenstand, der ziemlich lang war, wurde hinter die Gardine zurückgezogen. Kein Objektiv, wie er eben noch erkannte, sondern es erinnerte an … ja, er war ganz sicher: das Ding mußte ein Richtmikrofon sein.

      Der Fensterflügel drüben war weit nach innen zurückgeschlagen, und die Übergardine aus dunklem Stoff hing jetzt leicht vom Wind bewegt als einziges Hindernis im Fenster.

      «Sie haben‘s auf uns abgesehen …», sagte er, ohne seine Stimme zu dämpfen, als er sich ins Zimmer zurückwandte.

      «Wer?»

      «Ich weiß nicht. Aber sie beschatten uns. Drüben im Fenster war gerade ein Richtmikrofon.»

      Thaube stieg mühsam aus dem Bett und trat neben ihn, sein Gang war leicht schwankend, und auf seiner hohen Stirn glänzten Schweißtropfen. Er trug ein altmodisches weißes Nachthemd, das aus der Wäscheschublade des möblierten Zimmers stammen mußte. Die Vermieter, ältere Leute, hatten ihm ihre Sachen überlassen.

      Neben Karga wirkte er sehr hager und lang; während er sich mit einer Hand am Fensterkreuz abstützte, erinnerte seine verzogene Figur an die Darstellungen des traurigen Ritters von la Mancha, der für einen Augenblick vom Klepper gestiegen war und seine Lanze in die Ecke gestellt hatte.

      «Sicher wegen meiner zahllosen Anschläge auf den Papst und die europäischen Königshäuser», sagte er und drohte mit erhobener Faust zur anderen Seite hinüber.

      «Ich bin nicht sicher, ob sie immer zwischen Scherz und Ernst unterscheiden können», gab Karga zu bedenken.

      «Was kann mir noch passieren? Ich bin ein toter Mann.»

      Karga beschloss, ihm nichts von den Männern in seiner Wohnung zu sagen. Es würde ihn nur zu unüberlegten Reaktionen provozieren. Er zog das Bettzeug ab und legte ein frisches Laken auf. Er arbeitete schnell und geschickt, und Thaube sah ihm dabei vom Lehnstuhl aus zu. Um unter die Matratze am Kopfende zu gelangen, mußte er das Bett abrücken; es verursachte ein quietschendes Geräusch auf dem Kachelboden.

      «Alles vergebliche Mühe», murrte die Gestalt im Lehnstuhl.

      «Du solltest deinen Pessimismus nicht wie einen Geburtstag abfeiern.»

      «Meine Geburtstage waren immer pessimistisch.»

      Als Karga nach einer halben Stunde wieder auf der Straße stand, atmete er auf. Es gab zwei Dinge, die er nicht ausstehen konnte: Hypochondrie und Willenlosigkeit. Sein eigenes Leiden entzog sich jeder willentlichen Beeinflussung.

      Aber er machte nicht viel Aufhebens davon. Er mied Schiffsfahrten und Brücken und ging niemals Schwimmen. Wie andere ihren Analphabetismus, so hielt er sein Gebrechen wo er konnte geheim. Trotzdem ließ es sich nicht immer vermeiden, dass man davon erfuhr.

      Bei Taxifahrten über die Rheinbrücken schloss er schon einige Straßen vorher die Augen, um im Ungewissen zu bleiben, wann sie das Wasser überquerten.

      Während er das gegenüberliegende Haus passierte, spielte er einen Augenblick mit dem Gedanken, seine Beobachter dort oben zur Rede zu stellen.

      Er trat in den Hauseingang und zündete mehrere Streichhölzer an. Der Wind blies die Flamme immer wieder aus.

      Die mittlere Klingel war ohne Namensschild, wahrscheinlich eine leerstehende Wohnung. Sein Finger ruhte nachdenklich auf dem Klingelknopf.

      Dann argwöhnte er, dass es sie nur um so vorsichtiger und geschickter vorgehen lassen würde. Je mehr er nach den Gründen seiner Beschattung suchte, desto rätselhafter erschien sie ihm. Vielleicht lag seine Chance darin, dass sie sich auf irgendeine Weise verrieten?

      Er wartete es nicht ab. Als er erwacht war und beim Frühstück saß, fühlte er plötzlich Ärger aufsteigen. Der Gedanke, einer anonymen Verfolgung ausgesetzt zu sein, die sich offensichtlich nicht einmal durch den Gang zur Polizei abstellen ließ, war eine solche Ungeheuerlichkeit, dass seine Entschlossenheit obsiegte und seine angeborene Vorsicht ins Hintertreffen geriet. Warum nicht zum Angriff übergehen?

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