Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein. Till Angersbrecht
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Dann begann er:
Es ist ein heiliges Gesetz der Marsgemeinschaft, niemandem einen Vorrang vor anderen zu gewähren. Dieses Gesetz unterscheidet uns von der alten Gaia-Welt, wo sie Ungleichheit und Ungerechtigkeit praktizierten. Wir wissen, dass jeder Mensch gleich ist: Mit Ausnahme der von Natur aus minderwertigen Männchen betritt jedes Kind die Welt mit gleichen Rechten und Pflichten. Daher verdient jeder den gleichen Anteil an Aufmerksamkeit und Liebe, denn nichts kränkt den Menschen so sehr wie deren ungleiche Verteilung. Unsere Pilgermütter, die ersten, die auf dem roten Planeten als Siedler eintrafen, waren von dieser Einsicht so innig durchdrungen, dass sie das Grundgesetz aufstellten, wonach nicht nur Essen und Trinken, nicht nur alle materiellen Objekte, geschwisterlich zwischen ihnen geteilt werden sollen - solche Gemeinschaft haben sie zu Recht als gewöhnlich abgetan, denn sie sei schon unter den Tieren üblich – sondern vor allem und ganz besonders, das kostbarste Gut überhaupt: die Liebe.
In der neuen vollkommenen Welt, auf dem Mars, vollziehen wir auch den letzten entscheidenden Schritt: Wir verpflichten uns, die Liebe zu allen uns umgebenden Menschen auf das Strengste zu teilen, damit niemand davon zu viel oder zu wenig bekommt.
Ego wusste, dass er bis zu diesem Punkt nur Selbstverständlichkeiten vorbrachte, doch wurde es gern gesehen, wenn diese immer erneut bekräftigt wurden. Die Kunst besteht darin, das Gewohnte in immer neue Gewänder zu kleiden, so dass es immer wieder Aufsehen erregt. In dieser Kunst hatte sich Ego von früh auf geübt. Man sah es den Sätzen an, die er nun schrieb. Er wusste, dass er damit Gnade und sogar Gefallen vor den Augen der Holden findet.
Liebe ist ein öffentliches Gut wie Essen und Trinken. Liebe darf niemals Privateigentum sein. Ein Quotenmann kennt nur eine einzige Pflicht: Er muss jederzeit für jede da sein, weil jede ihm gegenüber das gleiche Recht besitzt. So sagt es das Grundgesetz.
In dieser Art schrieb Ego noch zwei weitere Seiten voll, aber wir müssen ihm dabei nicht auf die Finger schauen, zumal wir ja schon begriffen haben, dass er diese Zeilen nur aus Angst vor der Inschrift über dem Eingang zur Unterwelt schrieb. Er wusste ja, dass er in dieser Nacht gegen das Grundgesetz und die Verfassung verstoßen hatte. Ella hätte ihn am liebsten zu ihrem Privateigentum gemacht, und er selbst hatte unglaubliches Vergnügen dabei empfunden - und noch dazu in der Patriarchenstellung, die ihn in den Augen jeder ehrbaren Frau zu einem Schurken machte!
Die Sünde, so sehen wir, gibt keinem Menschen Ruhe, da kann er noch so schöne Aufsätze schreiben, um sich äußerlich reinzuwaschen. Der Leser hat außerdem Grund, Ego, den Quotenmann, aufgrund dieser nächtlichen Schreibübung für einen scheinheiligen Moralapostel zu halten.
Nun, dieses Urteil scheint mir denn doch etwas zu streng zu sein. Angesichts der Umstände sollten wir Milde walten lassen. Es ist nun einmal ein Faktum, dass selbst die Frauen der fortschrittlichsten aller bisherigen Zivilisationen den Ziel- und Endpunkt der humanen Entwicklung noch nicht erreichten. Wenn Ella bei dem Gedanken, ihren nächtlichen Gespielen mit anderen Frauen zu teilen, großen Widerwillen empfand, also in den uralten Irrtum des Privateigentums fiel, dann nicht aus innerer Böswilligkeit, sondern einfach, weil es ihr noch an letzter Vollkommenheit fehlte. Und wenn andererseits Ego, statt den Beischlaf rein pflichtgemäß zu vollziehen, dabei zum ersten Mal ungeahntes Vergnügen empfand, dann gewiss nicht aus plötzlich aufschießender Verderbtheit, sondern weil er, als er damals von den Genies mit männlichen Genen in einer Petrischale angesetzt worden war, eben doch nicht ganz perfekt programmiert worden war.
Gewiss haben beide, Ego wie Ella, gegen die Verfassung der Stadt verstoßen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber sie taten es, weil die Menschen selbst hier auf dem Mars noch nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt sind. Das Ideal des vollkommenen Teilens und der perfekten Pflichterfüllung steht immer noch unerreicht vor den Menschen. So ist es eben leider nach wie vor unerlässlich, das Gewissen hin und wieder schamhaft mit einem Stück Tuch zu verhängen. Es sollte möglichst dunkel sein!
Ein betäubendes Getränk, die Genies und das Reich der Frauen
Der Jahrestag der glorreichen Revolution fällt jeweils auf den Ersten Mai des soundsovielten Jahres nach MM (Beginn des Matriarchats auf dem Mars oder 2045 n. Chr.). Fünf Jahre zuvor hatte sich Marsopolis von Gaia unabhängig erklärt (5 v. MM). Aus der Gaia-Kolonie war ein unabhängiger Staat geworden, der aber weiterhin unter der Herrschaft der Männer stand. Diesem Zustand setzte erst die “Revolution der Holden” ein Ende; erst sie löste uns endgültig von einer Vergangenheit aus Aberglaube und Unterdrückung. Dieser größte Tag in der Geschichte des Mars wurde Jahr um Jahr vor dem “Felsen des kosmischen Lichts” gefeiert.
Ich nehme an, dass dieses grandiose Naturspektakel noch nicht in sämtlichen Winkeln des Alls bekannt ist. Selbst der gebildete Leser auf einer unserer vielen bewohnten Planetenkugeln jenseits unseres Sonnensystems kann daher nicht unbedingt wissen, was ihn an diesem Felsen erwartet. Von den sieben Weltwundern auf Gaia hat er sicher gehört. Als dessen größtes gelten verschiedene Steinhaufen in Ägypten, die sie Pyramiden nennen, weil sie wie zugespitzte Zahnstocher meilenweit in den Himmel ragen. Ein anderes Weltwunder war die Arche Noah: ein bescheidener Holzkahn, dessen Passagiere aber nicht einmal Menschen, sondern fast ausschließlich Tiere waren. Auf dem roten Planeten gibt es zwar nur ein einziges Wunder, aber das ist, wie ich meine, allen Wundern sämtlicher übrigen Himmelskörper haushoch überlegen. Es sind die grünen Niagarafälle, oder, wie sie bei uns offiziell genannt werden, die “Quellen des Himmlischen Lichts”.
Etwa eine Stunde vor Anbruch der Dunkelheit machte sich Ella mit ihrem Gefährten Ego auf den Weg. Dieser saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wie alle an diesem Tag festlich bewegten Menschen dachte er voller Bewunderung an die Großartigkeit des epochalen Ereignisses im Jahre Null der Revolution, mit der die eigentliche Geschichte des roten Planeten überhaupt erst begann. Damals hatte es einen Umsturz gegeben, welcher die alte Ordnung von einem Tag auf den anderen vom Mann auf die Frau, von Böse auf Gut, von Ver-kommen auf Voll-kommen umgepolt hatte, denn, wie ich schon sagte, herrschten die ersten fünf Jahre der Unabhängigkeit zunächst noch die Männer auf dem Mars.
Ego war zu dieser Zeit noch nicht geboren, deren Wildheit und rohes Wesen hat er deshalb nicht am eigenen Leib erlitten, aber aus vielen eifrig studierten Quellen wusste er, dass die furchtbaren Zustände auf Gaia unverändert nach Marsopolis transplantiert worden waren. Die Stadt auf dem Mars war ein Patriarchat, eine Diktatur bärtiger, muskelprotzender, schlürfender, saufender, hurender und meistens grölender Männer. Vom Ersten bis Fünften Reif, also überall in der Stadt, diente die Frau dem Mann nicht nur als Arbeitstier, sondern natürlich auch als stets verfügbares Lustobjekt, so wie es auf Gaia schon immer gewesen war, nämlich schon seit der Zeit, als der Mensch sich aus dem Affen entwickelte.
So wäre es wohl auch geblieben, hätten die Frauen nicht großartige Verbündete an ihrer Seite gehabt. Glücklicherweise gibt es nämlich zwei Arten von Männern. Da ist einmal der “homo communis”, oder wie frau ihn hier verachtungsvoll nennt, der Koch: ein grobschlächtiges, brutales, bisweilen sehr schlaues, aber stets rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedachtes Wesen. Dieser Mann war der eigentliche Feind und Schrecken der Frauen. Doch neben ihm - und von homo communis zutiefst verachtet - existiert noch eine eigene höchst merkwürdige Variante des männlichen Geschlechts, nämlich die so genannten Genies, die, wie ihr Name besagt, über außerordentliche Fähigkeiten geistiger Art verfügen, den Frauen aber durchaus nicht gefährlich werden, weil sie physisch zerbrechlich und in der Regel derart behindert sind, dass sie ohne Hilfe nicht überleben können.
Die Genies verdanken ihre Existenz bekanntlich dem Watson-Effekt – einer merkwürdigen genetischen Verirrung, über die später noch zu reden sein wird. An dieser