Tauziehen am Myrtenkranz. Wilma Burk
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Bereits vor der Abfahrt in Berlin wurde am Morgen auf dem Bahnsteig gedrängelt, geschoben und geschubst, um in den Zug hineinzukommen. Höflich, wie ich erzogen war, ließ ich diesem und jenem den Vortritt und war schließlich froh, überhaupt hineingekommen zu sein. Ich hatte nicht erwartet, schon mit einem fast überfüllten Zug aus Berlin loszufahren. Beklommen fragte ich mich da bereits, wie es wohl am Abend bei der Heimfahrt sein würde.
Noch ahnte ich nicht, welche Bedeutung der Tag für mich haben sollte, als ich an diesem Morgen in einem Eisenbahnabteil zwischen den beiden Sitzreihen stand. Was heißt, stand? - Ich hing an einer Haltestange des Gepäcknetzes über den Sitzenden und drohte schwankend, bei jedem Ruck des Zuges, auf dem Schoß des Glücklichen vor mir zu landen, der gerade noch einen Sitzplatz erwischt hatte. Noch standen meine Taschen faltig und leer am Boden, und ich hoffte, dass Tante Luise sie wieder mit essbaren Schätzen füllen konnte. Mit meinen Füßen versuchte ich sie festzuhalten. Nein, ein Vergnügen war so eine Hamsterfahrt nicht.
Onkel Fred, Tante Luises Mann, holte mich mit einem Pferdefuhrwerk vom Bahnhof ab. Ich hörte bereits das Schnauben der Pferde, als ich mich zwischen eilig davon strebenden Menschen aus dem Bahnhof drängte. Wer außer mir wurde hier schon abgeholt? In alle Richtungen eilten die Menschen mit ihren leeren Rucksäcken und Taschen. Einige wussten inzwischen, wo sie etwas bekamen, viele aber wollten noch die Ersten sein, die einen Bauernhof erreichten, um vielleicht wenigstens Kartoffeln zu erhalten. Wenn so mancher wüsste, womit ich in meinen Taschen heimfuhr, der wäre sicher neidisch geworden.
„Na, Mädchen, ist bei euch wieder Not in der Speisekammer?“, rief mir Onkel Fred entgegen als ich aus dem Bahnhof trat. Breit saß er auf dem Kutschbock seines Ackerwagens, ein kerniger Bauer mit rotem von Wind und Wetter zerfurchtem Gesicht. Unter seiner warmen Schirmmütze mit den Ohrenklappen sah er mich mit seinen hellen gutmütigen Augen an. Das war schon viel, was Onkel Fred sagte. Redselig war er nie. Er erwartete auch keine Antwort. Aber fürsorglich legte er mir die Decke um die Beine, nachdem ich zu ihm auf den Kutschbock geklettert war. Das war gut bei der noch immer eisigen Kälte.
Onkel Fred hob die Peitsche, und mit einem „Hüh!“ setze er die Pferde in Trab. Langsam zogen wir an den Menschen vorüber, die ihres Weges gingen, von Bauernhof zu Bauernhof, in diesem Ort oder im nächsten. Vielleicht liefen einige auch zu einem weiter entfernten Ort, wobei sie hofften, viele würden sich den weiten Weg nicht machen, und so ihre Chance größer sein, dort etwas zu bekommen. Manch neidischer Blick traf mich im Vorbeifahren.
Bald hatten wir die Menschen zurückgelassen, und näherten uns dem Ort, der dort am Ende der Landstraße vor uns lag. Zeigte der Winter auch noch, was er konnte, so kündigte sich der Frühling bereits an. Die Vögel begannen ihr Lied zu singen, und die Bäume links und rechts der Chaussee wirkten nicht mehr so kalt und grau. Die Pferde dampften und schnaubten und zogen uns in ruhigem Trott die Straße entlang. Die weiße Schneedecke auf den weiten Feldern war dünn geworden, sie ließ hier und da braune Erde durchsehen. Einen würzigen Duft von fruchtbarem Boden brachte der Wind mit, der uns bei der Fahrt eisig in die Wangen kniff.
Tante Luise erwartete uns bereits. Die Hühner im Hof stoben gackernd auseinander und die Gänse, die träge in der Ecke lagen, standen irritiert schnatternd auf, als die Pferde den Ackerwagen rumpelnd durch das große Tor auf den Hof zogen. Der Hofhund bellte und zog an seiner Kette, an der er am Tag angemacht war. Ihn musste ich zuerst begrüßen, als ich vom Kutschbock sprang, sonst hätte er uns ausdauernd nachgejault. Doch schon kam Tante Luise aus dem Haus gelaufen. Ihre lustigbunte Kittelschürze flatterte, ihr kräftiger Busen wogte und ihre drallen Arme drückten mich fest an sich - mir blieb fast die Luft weg.
„Katrina, Kind, da bist du ja! Bin ich froh, dass du gut angekommen bist“, rief sie. Offenbar machte sie sich wirklich jedes Mal Sorgen, wenn ich allein aus der Stadt zu ihnen kam. Für Tante Luise blieb ich eben immer das „Kind“, trotz meiner inzwischen zwanzig Jahre. Dann schob sie mich ein Stück von sich und sah mich kritisch an. „Ich glaube, du bist wieder dünner geworden“, stellte sie fest. Auch das tat sie jedes Mal. Ich wusste, gleich würde sie vor mir auf den Tisch stellen, was ihre Vorratskammer zu bieten hatte, so als könne sie den Makel damit sofort beseitigen.
Ich war gerne bei ihr. Es gefiel mir, in ihrer molligen Bauernküche auf der Bank am blank gescheuerten Holztisch zu sitzen, während im Herd brennende Holzscheite knisterten und der letzte Frost des Winters Eisblumen in eine Ecke des Fensters malte. Ich aß eine Scheibe von dunklem Bauernbrot, dick mit süßem Quark bestrichen, und sah zu, wie Tante Luise meine Taschen mit Kostbarkeiten wie Eiern, Speck, selbst gemachter Wurst und sogar mit einer Ente füllte. Eifrig lief sie dabei zwischen ihrer Vorratskammer und der Küche hin und her. Sie verstand es, alles sorgsam einzupacken, dass auch ja kein Ei auf der Heimfahrt entzweiging. Immer wieder strich sie sich die vorwitzigen dunklen Locken zurück, die ihr von ihrem sonst straff gekämmten Haar ins Gesicht fielen, und dabei überfiel sie mich mit einem Schwall von Fragen. Ja, Tante Luise wollte alles genau wissen: Wie es Mama und Papa ging, was mein Bruder Bruno machte oder meine Schwester Traudel und wie es bei uns im Westteil der Stadt aussah.
Ein Fremder war an die Hoftür gekommen und hatte um ein paar Kartoffeln gebettelt. Ich hörte Tante Luise ablehnen, ihren Seufzer hinterher und war froh, selbst nicht bettelnd von Hof zu Hof gehen zu müssen.
„Augenblicklich laufen einem die Berliner wieder das Haus ein. So viel kann man gar nicht haben, wie man da geben möchte“, erklärte Tante Luise, als sie in die Küche zurückkam.
Als es am späten Nachmittag Zeit war heimzufahren, wünschte sie mir: „Nun komm nur mit all den Sachen gut nach Hause“, ehe mich Onkel Fred mit seinem Ackerwagen wieder zum Bahnhof zurückbrachte.
Ja, das war nie sicher, weil bei jeder Heimfahrt am Bahnhof Kontrolleure stehen konnten, die bei diesem oder jenem sehen wollten, was er in seinem Gepäck mit sich führte. Denn eigentlich mussten die Bauern abliefern, so viel sie konnten. Wie oft tauchten darum vor dem Bahnhof unerwartet Männer auf und ließen sich von einigen zeigen, was sie in Rucksack oder Tasche hatten. Nicht selten wurde so manch einem dabei wieder abgenommen, was er sich zuvor erbettelt hatte. Mir war es bisher noch nie passiert, aber die Angst davor blieb. Je näher wir dem Bahnhof kamen, desto mehr fror ich - vor Kälte oder vor Spannung und Furcht?
Onkel Fred hielt schon ein ganzes Stück vor dem Bahnhof an. „Den Kontrolleuren möchte ich nicht begegnen“, sagte er.
Beklommen stieg ich vom Kutschbock hinunter und nahm die schweren Taschen. Von allen Seiten kamen jetzt die teilweise noch mageren Gestalten schwer beladen mit Rucksäcken und Taschen zum Bahnhof. Jeder hoffte, das Essbare, was er sich bei seinem Weg von Bauernhof zu Bauernhof erbettelt oder gegen irgendetwas beim Bauern eingetauscht hatte, nach Hause zu bringen. Wir hatten Glück, ein Kontrolleur war heute nicht zu sehen.
Auf den Bahnhof wurde ich mehr geschoben, als dass ich ging. Schwer trug ich an den Taschen. Zitternd vor Kälte stand ich schließlich zwischen Säcken, Koffern, anderem Gepäck und Menschen am Bahnsteigrand und wartete auf den Zug. Unter meinem Mantel trug ich eine alte, viel zu weite Hose von Papa. Aber auch sie schützte mich vor der Kälte nicht - oder fror ich so, weil ich voll Bangen sah, wie die Menschenmauer auf dem Bahnsteig beängstigend anwuchs? Nervös zog ich den Knoten des Kopftuchs unter meinem Kinn fester. Die Hände waren mir klamm und wollten mir kaum gehorchen.
Die Abenddämmerung war fast in Dunkelheit übergegangen, als endlich der bereits überfüllte Zug einfuhr. Bewegung kam in die Menschenmauer. Jeder griff sich, was