Tauziehen am Myrtenkranz. Wilma Burk

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Tauziehen am Myrtenkranz - Wilma Burk

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Ich war es, die geknufft, gebufft und beiseite geschoben wurde. Ich verdammte die mir anerzogene Höflichkeit und Rücksichtnahme, die mich daran hinderte, den Menschen kräftig auf die Füße zu treten. Verzweifelt rannte ich noch immer mit meinen schweren Taschen am Zug entlang, als es die meisten bereits aufgaben. Einige erklommen die Dächer der Waggons oder banden ihr Gepäck auf den Trittbrettern fest. Wie in den schlimmsten Zeiten der „Hamsterzüge“ nach dem Krieg hockten sie sich daneben. Ratlos liefen mir Tränen über das Gesicht. Ich merkte es nicht. Wäre doch Mama jetzt hier, oder irgendjemand, der mich an die Hand nähme und mir sagte, was ich tun sollte. So dachte ich, hörte auf zu rennen und blieb ratlos stehen. Dieser Zug würde ohne mich abfahren. Wie so viele andere würde auch ich zurückbleiben. Und was dann?

      Keine Menschentraube drängte sich mehr vor irgendeinem Waggon. Der Stationsvorsteher mit seiner roten Mütze und der Kelle in der Hand, stand an der Bahnsteigkante und rief ständig eindringlich: „Zurücktreten!“ Da sprang von einer schon überfüllten offenen Plattform vor dem Eingang eines Eisenbahnwagons vor mir ein Mann herunter. Er ergriff mich und meine Taschen, riss sie mir aus der Hand, reichte sie hoch zu den Menschen auf der Plattform, packte mich und schob mich vor sich her hinauf.

      Hätte ich mich auflehnen und wehren müssen? Nein, ich weiß nicht, warum, doch ich ließ es geschehen und war einfach froh, dass jemand für mich handelte. Alles geschah so schnell. Meine Taschen landeten auf einem Berg von Gepäckstücken und ich hing mehr an dem Zug, als dass ich auf der Plattform stand. Doch fest an den Körper des Fremden gepresst, schob er mich zwischen die zusammengequetscht stehenden Menschen, denen es kaum noch möglich war, sich zu rühren. Nur widerwillig gaben sie nach, bis die Tür der offenen Plattform geschlossen werden konnte. Am liebsten hätte ich zu jedem, mit dem ich in Berührung kam, gesagt: „Entschuldigen Sie bitte!“

      Doch ohne den Fremden würde ich jetzt hier nicht stehen und mit dem Zug nach Berlin fahren können. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und sagte leise: „Danke.“ Der Fremde lächelte zu mir herab. Schnell blickte ich zur Seite. Bewegen konnte ich mich kaum. Auch sonst fühlte ich mich wie gelähmt. Von diesem Fremden ging etwas mir Unerklärliches aus, was mir fast die Luft nahm. Mir war, als spürte ich jede Faser seines Körpers. Sein Atem streifte mein Gesicht. Auch wenn ich es gekonnt hätte, ich wäre unfähig gewesen, mich nur einen Schritt von ihm zu entfernen.

      Verwirrt, willenlos meinen Gefühlen ausgeliefert, stand ich inmitten der Menschen an ihn gepresst. Noch nie hatte ich Ähnliches erlebt. Ein Mensch war in mein Leben getreten, der eine mir unerklärliche Gewalt über mich zu haben schien. Alles was mir Mama gesagt hatte, wie distanziert sich ein anständiges Mädchen zu verhalten hätte, wie vorsichtig ich Fremden gegenüber sein sollte, nichts davon schien mehr zu gelten. Was war geschehen?

      Der Stationsvorsteher rief: „Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ Ich hörte seinen Pfiff, mit dem er dem Zug die Fahrt freigab. Langsam, ganz langsam rollten knirschend die Räder auf den Schienen. Die Lokomotive stieß zischend und fauchend Dampf und Rauch in die Luft. Gemeinsam im Takt der ruckenden Wagen schwankten unsere Körper hin und her. Die vielen Menschen, die auf dem Bahnsteig zurückbleiben mussten, sahen enttäuscht zu, wie der Zug aus dem Bahnhof rollte. Wir fuhren! Ich wollte gerade aufatmen, da blieb der Zug stehen. Die Lokomotive stampfte leise vor sich hin. Über Lautsprecher wurden alle, die auf den Dächern saßen, aufgefordert, den Zug zu verlassen.

      Unwillkürlich duckte ich mich, mussten auch wir von diesem offenen Peron herunter? Dabei spürte ich, wie der Fremde versuchte, trotz des Gedränges, seinen Arm um meine Schulter zu legen. „Das gilt nicht für uns“, sagte er.

      Beruhigt atmete ich auf. Nein, wir waren nicht gemeint. Und die Menschen von den Dächern fanden tatsächlich noch Platz in dem Zug. Wie, weiß ich nicht. Irgendjemand sagte, sie seien durch die Fenster in die Abteile hineingekrochen.

      Endlich setzte sich der Zug mit Zischen und Fauchen wieder in Bewegung, schneller und schneller. Wir fuhren. Dicke Wolken mit Funken vermischt spuckte die Lokomotive in den dunklen Himmel. Ruhe kehrte unter den Menschen ein. Zaghaft wagte ich einen ersten Blick in das Gesicht über mir. Soweit ich es in der Dunkelheit erkennen konnte, sahen helle Augen auf mich herab und sein Lächeln wollte mich beruhigen. Ich erwiderte es verlegen und errötete. Gut, dass er das in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. In der Menge dicht an ihn gepresst, glaubte ich, seine Wärme zu spüren.

      Verlegen starrte ich auf einen Knopf an seinem Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte, der aber seine sicher rot gefrorenen Ohren kaum erreichte. Er hatte keine Kopfbedeckung auf. Er musste frieren in dem eisigen Fahrtwind, der uns umwehte. Von Zeit zu Zeit bedeckte er seine Ohren mit den Händen. Schüchtern bot ich ihm mein Halstuch an. Er schlug es lachend aus. Ja, was sollte er damit, es sich um den Kopf binden? Wie würde das aussehen? Da lachte auch ich.

      Die Spannung der Menschen begann sich zu lösen. Ihre Freude, mit dem Zug mitgekommen zu sein, machte sich in ersten launigen Bemerkungen Luft.

      „Sie, Männekin, wenn se nich sehn wolln, wat ick zu Mittach jejessen habe, denn nehm se ma lieba ihren Ellenbogen aus meine Magenjegend!“, rief einer irgendwo neben mir in dem Knäuel zusammengepresster Menschen. Befreites vielstimmiges Gelächter antwortete ihm.

      „Ich glaube, ich stehe auf einer Kartoffel, auf einer einzigen, mit einem Bein“, verkündete mit piepsiger Stimme eine Dame, die irgendwo eingekeilt war. Wäre sie nicht eingeklemmt von den Körpern um sie herum, so wäre sie wahrscheinlich umgefallen.

      Lachend stellten einige fest, dass es ihnen genauso erginge. „O je, mein Kartoffelsack is uffjejangen!“, dröhnte eine tiefe Stimme.

      „Wat denn!“, rief da der Erste. „Ihr tretet uff det kostbare Jut rum? Det jeht aba nich, Leute! He, Männekin, se sind dünne jenuch, tauchen se mal unter und fangen se die Ausreißer wieder ein.“

      Dass der Dünne der Aufforderung nachkam, merkte daran, dass ich enger an den Fremden gedrängt wurde. Schützend versuchte er mit den Armen den schlimmsten Druck von mir fernzuhalten. Noch immer stand ich wie gelähmt. Doch ich fand es überhaupt nicht unangenehm, so an ihn gedrängt zu werden. Im Gegenteil, in mir kam der Wunsch auf, einfach meinen Kopf an seine Schulter zu legen. Hatte ich mich verliebt? Geht das so schnell?

      Der Dünne schnappte nach Luft, als er wieder an der Oberfläche erschien. „Melde, so viele Kartoffeln wie möglich eingefangen!“, berichtete er.

      Wie hatte er das nur geschafft? Er musste ja zwischen den Beinen der andern herumgeangelt haben. Aber irgendwie hatte er es erreicht, sie wieder in den Sack zu stopfen. Der Besitzer dankte es ihm mit vielen Worten. Ja, alle um ihn herum schienen sich mit ihm zu freuen.

      Plötzlich war bei den auf der Plattform zusammengezwängt stehenden Menschen vergessen, dass sie sich vorhin auf dem Bahnsteig am liebsten gegenseitig weggestoßen hätten, um nicht zurückbleiben zu müssen. Als hätte es das nicht gegeben, begannen einige sich zu unterhalten, während der Zug durch die Dunkelheit fuhr. Mit dem Rauch und Dampf der Lokomotive schwirrten Funken wie Glühwürmchen durch die Luft.

      Auch der für mich noch Fremde und ich begannen stockend und zögernd ein Gespräch, obgleich es schwierig war, etwas zu verstehen, bei dem Gewirr der Stimmen um uns herum. Nach den Fragen: „Wo müssen Sie hin?“ – „Wo kommen Sie her?“ sprachen wir davon, wie es uns im Krieg ergangen war. Ich erfuhr, dass sein kleiner Bruder, sechzehn Jahre alt, als Flakhelfer bei einem Bombenangriff auf Berlin gefallen war und dass bei der Zerstörung seines Elternhauses durch Bomben auch seine Mutter umkam. „Mein Vater wurde kurz darauf in Russland für vermisst erklärt. Doch man glaubt, er sei gefallen“, sagte er.

      Ich schwieg kurz betroffen. Wie gut war es mir dagegen ergangen. „Wir, unsere ganze Familie, hatten Glück. Wir haben alles gut überstanden“, erklärte ich leise, fast mit einem schlechten Gewissen, dass ich nicht wenigstens

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