Tauziehen am Myrtenkranz. Wilma Burk
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Die Fahrt war lang. Wir hatten viel Zeit zum Reden. Seltsam, wann habe ich einmal einem Fremden so viel von mir erzählt und genauso viel von ihm erfahren? Es war, als wäre es wichtig, dass wir dies austauschten. Nicht einmal die Zuhörer um uns herum störten uns dabei. Wir hatten nur Augen und Ohren für uns.
Lachend erzählte er mir, dass er nach seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft, gleich nach Kriegsende, zuerst in seiner alten Firma im Osten Berlins wieder angefangen hatte zu arbeiten. Doch dort wurden zu der Zeit noch Suppenlöffel, Schaumlöffel und andere Haushaltsgeräte statt elektrischer Geräte hergestellt, weil die Russen im Zuge der Reparationen fast alle Maschinen aus der Fabrik in die Sowjetunion „verlagert“ hatten. Selbst die nebensächlichsten Konstruktionszeichnungen hatten sie mitgenommen. Der Betrieb musste praktisch bei Null beginnen.
Doch da er im Westen Berlins wohnte und sich bald die Gegensätze zwischen Ost und West abzeichneten, wechselte er als kaufmännischer Angestellter bei der ersten Gelegenheit in einen Betrieb im Westen, der vor der Teilung der Stadt zu einem Konzern mit der jetzigen Ostfirma gehört hatte.
Viel zu schnell verging mir die Zeit unserer gemeinsamen Fahrt. Wie aus einem Traum erwachte ich, als der Zug mit kreischenden Bremsen in den Heimatbahnhof einfuhr. Mit Stoßen und Drängen löste sich das Knäuel der Menschen auf. Dabei hatte jeder Mühe, sein Gepäck zu finden. Ohne den Fremden wäre ich hilflos gewesen. Er aber hatte mit einem Griff meine Taschen aufgenommen, gab sie mir und schulterte sich seinen Rucksack auf den Rücken. Mich am Ärmel festhaltend, bahnte er uns den Weg zum Ausgang.
Mein Herz klopfte bis zum Hals. Würden wir jetzt gleich auseinandergehen und uns nie wiedersehen? Wir blieben vor dem Bahnhof im schwachen Schein einer Laterne stehen. Die Menschen quollen aus dem Bahnhof und hasteten um uns davon. Wir machten beide nicht einen Schritt voneinander, um zu gehen. Es war, als wollten wir den Moment der Trennung hinauszögern.
„Kann ich Sie irgendwo telefonisch erreichen“, fragte er.
Ich schaute ihn an, wollte ihm antworten, begann zu stottern. Verflixt! Was war mit mir los?
Meine Straßenbahn bog quietschend um die Ecke. „Meine Bahn!“, schreckte ich auf. Plötzlich trieb es mich, schnell wegzukommen. Hastig lief ich los zur Haltestelle.
„Aber, wo? Ihre Adresse?“, hörte ich ihn rufen.
Ich drehte mich im Weglaufen um und rief ihm zu: „Ich arbeite bei der ‚Habag Versicherung’ in Tempelhof. Fragen Sie nach dem Schreibbüro und Katrina Richter.“ Dann hatte ich die Straßenbahn erreicht und stieg ein.
Atemlos stand ich im letzten Wagen, klebte am Fenster und sah den Fremden kleiner und kleiner werden, bis wir um die Ecke fuhren und er ganz verschwand. Wann hatte ich mich jemals so über mich geärgert wie jetzt. Hätte ich nicht auf die nächste Straßenbahn warten können? Aber nein, als wäre ich auf der Flucht, war ich davongerannt. Wovor war ich davongerannt? Wenn er jetzt nicht verstanden hatte, was ich ihm zurief, würde ich ihn nie wieder sehen.
*
Noch, als ich an diesem Abend übermüdet im Bett lag und doch nicht schlafen konnte, fragte ich mich bang: Wird es ein Wiedersehen geben? Ja, würde ich ihn überhaupt wieder erkennen? Ich wusste nicht einmal seinen Namen. Verzweifelt versuchte ich, mir ein Bild von ihm zu machen. Ich hatte ihn nur in Dämmerung und Dunkelheit gesehen, aber auch gefühlt … Schlank war er und größer als ich. Doch hatte er nun blondes oder dunkles Haar? Nur seine hellen Augen sah ich klar vor mir. Und dann war da ein Geruch, der ihn umgab. Ich kannte ihn von Papa her. Das war der Geruch nach Tabak. Ich konnte ihn mir gut mit einer Tabakpfeife vorstellen. Hoffentlich, hoffentlich hatte er verstanden, was ich ihm im Weglaufen zurief. Noch im Einschlafen wünschte ich es mir.
*
Gespannt auf einen Anruf wartend verbrachte ich die nächsten Tage an meinem Arbeitsplatz in einem tristen Büro. Die Wände davon hätten längst einen neuen Anstrich vertragen. Der Putz der Decke war rissig seit den Bombenschäden des Krieges in der Umgebung. Wenn man morgens hereinkam, war die Luft stickig. Als Erstes zog jeder gleich die farblosen grauen Vorhänge zurück und riss die Fenster auf. Mit der frischen Luft drangen aber auch der Lärm und der Staub der Straße herein. Es war eine breite Hauptstraße. Ich hatte Glück, dieses Büro der Versicherung befand sich im amerikanischen Sektor, während einige andere Filialen davon nach der Teilung der Stadt zum Ostsektor gehörten. Viele der dort Angestellten waren dadurch zu Wanderern zwischen zwei Welten geworden, sie wohnten in einem westlichen Sektor und arbeiteten im Ostsektor. Ich aber saß hier an meiner Schreibmaschine und hoffte, dass der Fremde mich finden würde. Bei jedem Klingeln des Telefons hielt ich inne. War er es?
Fräulein Krause, die Chefin unseres Schreibzimmers, saß gleich neben der Tür an ihrem Schreibtisch, so dass sie alle Schreibmaschinenplätze übersehen konnte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie wirkte grau und eingesunken. Fand sie aber einen Grund, vorwurfsvoll ihren Kopf zu heben, so richtete sie sich auf. Sie hörte genau, wenn eine der Maschinen stillstand. Ungehalten konnte sie dann fragen: „Was gibt's?“ Und sie fragte es mich in diesen Tagen oft.
Brigitte, meiner engsten Freundin, die neben mir saß, hatte ich gleich von dem Fremden aus dem Zug erzählt. Ihre dunklen Augen leuchteten auf. „Warum hast du ihn nicht wenigstens nach seinem Namen gefragt?“, rügte sie mich verständnislos, warf mit einem ungeduldigen Ruck ihre langen dunklen Haare in den Nacken und erklärte: „Es kann doch unmöglich sein, dass er dich so verwirrt hat.“
„Doch, das hat er“, erklärte ich verlegen und errötete.
„Dann hast du dich verliebt!“, triumphierte sie. Dabei musterte sie mich neugierig.
Ich kicherte vielsagend. „Dass du aber den Mund hältst und niemanden etwas davon erzählst, besonders nicht bei mir zu Hause“, beschwor ich sie.
So kam es, dass auch sie bald aufhörte zu schreiben und neugierig aufsah, wenn das Telefon klingelte. Fräulein Krause musterte uns bereits misstrauisch.
Doch welch vorwurfsvoller Blick traf mich erst, als sie mich dann wirklich ans Telefon rief. „Ein Privatanruf? Machen Sie daraus keine Gewohnheit, Fräulein Richter“, ermahnte sie mich.
Brigitte stieß mich bedeutsam an, sie war ebenso aufgeregt und gespannt wie ich. Ich lief nach vorn, nahm den Hörer, den mir Fräulein Krause hinhielt, und spürte, wie mir mein Herz fast zum Hals heraussprang. Mit zittriger Stimme meldete ich mich: „Katrina Richter.“
„Hier Konrad Haideck“, antwortete mir eine vertraute Stimme. „War nicht so einfach, Sie zu finden. Wann sehen wir uns?“ Das klang bestimmt, war mehr als eine Frage.
Wieder spürte ich, wie ich mich dem Willen dieses mir immer noch fremden Mannes unterwarf. „Wann Sie wollen“, antwortete ich, ohne weiter zu überlegen.
Nachdem wir eine Verabredung vereinbart hatten, legte ich den Hörer auf. Wie auf Wolken schwebte ich an meinen Platz zurück. Erst Brigittes neugierige Frage: „Na, war er es?“, holte mich wieder herunter. Als ich es ihr bestätigte, traf mich ein seltsamer Blick. Sollte sie darauf neidisch sein?
In unserem Schreibbüro arbeiteten noch zwei andere Mädchen neben uns. Monika und Waltraud waren Freundinnen wie wir. Ich sah, wie sie miteinander tuschelten, als sie mitbekamen, was das für ein Anruf war, den ich da erhalten hatte. Ich warf den Kopf in den Nacken, sollten sie doch! Brigitte und ich mochten diese beiden nicht. Sie gehörten zu den Mädchen jener Zeit, die möglichst Nylonstrümpfe trugen und mit ihren amerikanischen Freunden prahlten. Wenn Fräulein Krause es nicht sah, zogen sie sich ihre breit gemalten, knallroten Lippen nach. Häufig erzählten sie uns von tollen