Der wandernde Aramäer. Karsten Decker
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Abram war zu ihm getreten, sein Gesicht von Tränen, Blut und Staub verschmiert. Im Hof standen die Frauen um Harans leblosen Körper, heulten und jaulten in einem polyphonen Chor, die Hände immer wieder zum Himmel werfend. Terach achtete kaum auf Abram und machte seinen Weg Richtung der Frauen, als Abram ihn am Gewand fasste und zurückzog. Erst jetzt wurde Terach gewahr, dass Abram noch immer das Bündel in den Armen hielt. Was war das eigentlich? Iris schaute ihn mit großen Augen an. Abram hatte sie längst beruhigt, und Terach nahm sie auf den Arm. Ihre kleinen Äuglein blickten ihn erwartungsvoll an.
Mit lauter Stimme rief Terach: »Mein Sohn ist mir genommen, aber Gott hat mir eine Tochter geschenkt! Ihr Name sei Sarai, das heißt: Streitsüchtig. Denn diese Welt ist streitsüchtig. Und im Streit ist sie mir eine Tochter geworden. Ich adoptiere dieses Findelkind vor aller Augen und Gott sei mein Zeuge. Sie soll mir eine Tochter sein, und Nahor und Abram haben eine Schwester. Sie soll mir ein Trost sein in meinem Schmerz und meiner Trauer, sie soll mich besänftigen, wenn die Welt streitsüchtig ist. Gott tue mir dies und das, wenn ich nicht dem Streit wo immer möglich ausweiche, denn wir Menschen haben immer nur eine beschränkte Sicht der Dinge, und verkennen unsere Einsicht als Wahrheit, und ist doch nicht die ganze Wahrheit. Dieser Tor, der hier tot vor uns liegt, hat mich verflucht im Markt, und hat nur seine Wahrheit gesehen, die ihn geblendet hat. Doch er hat zugleich eine Prophezeiung gesprochen, mir einen Weg gewiesen. Wir werden diese ruchlose Stadt verlassen und in die Provinzen ziehen. Wir werden dort lehren, was hier keiner hören will, Worte des Friedens und nicht des Krieges. Worte der Liebe, statt Worte des Hasses, Worte von einem wahren Gott, und nicht von Götzen, die nur stumm schauen. Wenn sich ein neuer Weg auftut, so lasst uns ihn gehen, im Vertrauen, dass wir dem Gott folgen, der mehr von der Wahrheit sieht, als wir in unserer beschränkten Sicht.«
Kapitel 2: Anfang und Ende, Himmel und Erde
Und das Fest, das wir endlos wähnen, hat doch wie alles seinen Schluss, nun keine Worte, und keine Tränen, alles kommt, wie’s wohl kommen muss.
Reinhardt Mey
Nach dieser ungewöhnlichen Nacht kam am Morgen alles nur langsam in Gang. Wilde Träume, die das Trauma immer wieder neu hatten aufsteigen lassen, hatten Terach sich von einer Seite auf die andere wälzen lassen.
Was war eigentlich geschehen? Nur langsam konnte er seine Gedanken und die Ereignisse der Nacht ordnen.
›Ja, es hatte alles mit diesem Disput um den Sklaven begonnen. Hätte ich einfach zusehen sollen? War denn mein Eingreifen so schlimm, dass daraus gleich ein Gerichtsstreit und schließlich ein Mord werden musste? Ischkatar, ja, so hieß der Sklavenschänder, war wohl überempfindlich gewesen. Ob er selber wusste, was er eigentlich wollte? Wer weiß, wie viel Unrecht er selber in den letzten Jahren hatte ertragen müssen. Was bringt einen Menschen dazu, so zu reagieren, ja überreagieren zu müssen? War er für die Feldzüge eingezogen worden, oder hatte er vielleicht Besitz an Verwalter verloren?‹ Wenn man seine Familie bringt, würde Terach mehr wissen. ›Und wieso kam er in der Nacht? Hatte er auf Haran gezielt? Wohl kaum, dann schon eher auf mich, oder den Sklaven, den er mir verkauft hat. Natürlich, er wollte den Sklaven treffen. Haran ist in die Schusslinie geraten. Ja, der Tod Harans war ganz gewiss ein Unfall gewesen, denn der Pfeil galt eindeutig dem Knaben. Ja, dann wäre es kein Mord gewesen, sondern nur Eindringen und Sachbeschädigung. Er hätte mir die 10 Silberlinge zurückgeben müssen und eventuell eine Strafe. Zwar wäre Ischkatar sicher zu Schadenersatz verurteilt worden, hätte man ihn erwischt, aber eben nicht wegen Mordes. Sklaven kann man nicht ermorden, sondern nur zerstören. Und warum war Haran nur aufgestanden? Warum nur? Und dann, was wäre anders gewesen, wenn der Knabe tot wäre? Ist ein Leben nicht so viel wie ein anderes, aber darf ein Vater etwa nicht wünschen, dass es hätte lieber einen anderen treffen sollen als seinen eigenen Sohn. Haran, Haran, warum nur du?‹ Tränen schossen Terach über die sonnengebräunten Wangen.
›Wenn doch nur alles ein böser Traum gewesen wäre‹, dachte er weiter, doch es war zu real, zu wirklich. Warum aber dieses sinnlose Morden überhaupt. Verletzte Ehre, Neid, Gier, Überheblichkeit führt so oft zu neuem Unrecht. Gewalt kann doch nur Gewalt erzeugen. Und wer war er, Terach, hier zu richten, war er nicht selber in der Nacht dem Instinkt der Blutrache gefolgt?
›Das Blut Ischkatars klebt an meinen Händen‹, ging es ihm durch den Kopf. ›Hätte Ischkatar seinen Plan umsetzen können und den Sklaven getötet, hätte er wahrscheinlich in der Dunkelheit verschwinden können. Bis wir verstanden hätten, was los war, wäre er in irgendeiner Seitengasse verschwunden gewesen, und man hätte ihm wohl kaum später etwas nachweisen können. Doch der Schock, dass er den Falschen getroffen hatte, muss ihn verwirrt haben. Er hat gezögert, war erst mit Verspätung geflohen, und hatte so den Vorsprung versäumt. Wollte er vielleicht trotz allem noch einen zweiten Pfeil auf den Knaben, sein ursprüngliches Ziel, schießen? Hatte er deshalb gezögert? Er war kaum zwei Straßen weit gekommen, als wir ihn erwischt hatten. Doch machte das Haran wieder lebendig? Und brachte das Lot den Vater zurück? Was mache ich nur? Ich werde Lot als meinen Sohn aufziehen müssen, nun da er Vollwaise ist. Und, warte, da war doch noch etwas in der Nacht. Dieses Findelkind. Sarai habe ich es genannt. Wo kam dieses Kind her? Nun habe ich zwei kleine Kinder statt eines Erwachsenen. Wir werden sehen, wir werden sehen!‹
Als Terach aus dem Haus trat, stand die Sonne im Osten bereits deutlich über dem Horizont. Er hatte lang in den Morgen hineingeschlagen und im Innenhof war schon reges Treiben. Das Frühstück, frische Brotfladen, Käse und Obst waren bereitet, Tee war aufgegossen. In der Mitte des Innenhofes war ein Gestell aus Stangen errichtet, auf dem man den Leichnam Harans aufgebahrt hatte, mit Blumen und Zweigen geschmückt, und bis auf den Kopf in Tücher gewickelt. Klageweiber waren in ihre rituelle Klage versunken, unter Tränen jaulend, immer wieder klagend die Hände gen Himmel aufschwingend, mit schwarzen Tüchern an den Handgelenken, die sie wie gewaltige Raben aussehen ließen. Eine kleine Gruppe Leute drängte nun durchs Haustor begleitet von einem Dutzend Knechte. Das musste der Hausstand Ischkatars sein. Sie sahen ängstlich drein, ungewiss, welches Schicksal sie nun ereilen würde. Wenn der neue Herr es wollte, konnte er beinah alles mit ihnen machen, und wenn sein Zorn noch dampfte, dann würde er, ohne Zweifel, sie alle köpfen lassen und die Kadaver in den Euphrat schmeißen, zusammen mit den Überresten Ischkatars. »Ich werde mich später um sie kümmern«, beschloss Terach.
Nahor, der schon beim Frühstück war, schaute ausdruckslos auf die Silberplatten vor sich. Er hatte bisher kaum einen Bissen herunterbekommen. Abram saß auf einem Kissen und hielt, ja, er hielt das kleine Mädchen in seinem Arm. Da sie ruhig schlief, musste wohl eine der Mägde bereits das Stillen übernommen haben. Das war gut!
»Was wird denn nun?« brach es aus Nahor heraus, als er seinen Vater kommen sah.
»Lass uns erst einmal frühstücken. Und lass uns überlegt handeln. Die Trauer benebelt mich, das ist gefährlich« sagte Terach. »Gott hat uns schwer geschlagen, er hat uns eine schwere Prüfung auferlegt. Und da heißt es, nicht überstürzt zu handeln. Ich kann ohnehin noch nicht fassen, was geschehen ist. Lasst uns in aller Ruhe durch die nächsten Tage gehen. Zunächst werden wir die Bestattung planen. Haran hat es verdient, dass wir ihm alle Ehre erweisen. Oh, ich, ich kann es nicht fassen. Wo ist überhaupt Lot? Weiß er schon, was geschehen ist? Natürlich! Aber, wo ist er?«
»Er ist bei Harans Leiche. Du kannst ihn nicht sehen, er sitzt auf der anderen Seite und weint. Er lässt niemanden an sich heran. Ich war schon da, aber er hat nur wild um sich geschlagen«, antwortet Nahor. Terach erhob sich, noch bevor er den ersten Bissen getan hatte, und ging hinüber zu der Aufbahrung. Er breitet die