Beispielhaft. Claus Karst

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Beispielhaft - Claus Karst

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Häuser zu suchen. Trotz der schwierigen Lebensumstände, die Zeiten des Krieges mit sich bringen, litt Hermanns Familie keine Not. Ihr Garten versorgte sie mit frischem Obst und Gemüse, der Bauer mit Milch, Fleisch, Eiern und anderen Nahrungsmitteln, sodass immer etwas zum Essen auf dem Tisch stand. Zum Glück für die Familie musste der Vater keinen Helden an der Front spielen, um einen Beitrag für den arischen Größenwahn des irrsinnigen Führers mit einer Waffe in der Hand zu leisten. Seine Schaffenskraft wurde in einem heimischen Industrieunternehmen dringender benötigt.

      Als kindlich neugieriger Bub, dessen Tagesablauf noch nicht durch die Schule beschnitten war, strolchte Hermann tagsüber unternehmungslustig auf dem Bauernhof herum. Er kannte dort alle Tiere mit Namen: die Pferde, Kühe und Schweine, von Hunden und Katzen ganz abgesehen. Mit Begeisterung stromerte er auch durch die umliegenden Wälder, die für ihn und seine lebhafte Fantasie einen aufregenden Abenteuerspielplatz hergaben. Seiner Mutter gelang es nie, seinen Tatendrang einzudämmen, obwohl sie ihm jeden Tag aufs Neue verbot, auf dem Hof oder in dem Wald allein zu spielen.

      Besonders die Scheune des Gutes erkor er sich gerne als Spielplatz, weil es allzeit dort für ihn etwas zu entdecken gab. Hühner legten dort heimlich Eier im Stroh ab, von denen er gelegentlich das eine oder andere davon mit nach Hause nahm. Seine Mutter schalt ihn zwar darob, ließ die Eier jedoch schnell im Küchenschrank verschwinden. Doch nicht nur solche Funde lockten ihn in die Scheune, auch die Lebewesen, die ihr Domizil dort hatten, wie zahlreiche Mäuschen, die ihrem Lieblingsspiel nachgingen, mit den Katzen Versteck zu spielen, und – sehr zu seiner Freude – meistens damit Erfolg hatten.

      Als er gerade wieder einmal nach versteckten Eiern Ausschau hielt, hörte er plötzlich hinter sich eine Stimme sagen: „Na, Jungchen, willst doch wohl nicht Eier klauen?“

      Hermann erschrak, denn er hatte niemanden kommen gehört. Er wandte sich mit roten Ohren um und blickte direkt in die freundlichen Augen des Knechts, der „Tadek“ gerufen wurde, dessen Familienname sich unaussprechlich anhörte.

      „Musst haben keine Angst vor mir!“, beruhigte ihn Tadek. „Aber nicht erwischen lassen, Bauer ist sehr böse.“

      Tadek war, wie Hermanns Vater zu Hause berichtet hatte, ein sogenannter Zwangsarbeiter polnischer Herkunft, der neben der Magd Olga dem Bauern als landwirtschaftliche Hilfskraft zugeteilt worden war. Beide trugen auf ihrer Bekleidung als Statuskennzeichnung ein aufgenähtes Stoffabzeichen, das ein P zeigte. Sie mussten von frühmorgens bis zum späten Abend auf dem Hof schuften, wurden jedoch im Vergleich zu den meisten ihrer Leidensgenossen hinreichend verpflegt und – mit Ausnahme von dem Altbauern – anständig behandelt. Dieser bösartige alte Mann mit einer meist schweißglänzenden Glatze, einer roten Knollennase als sichtbarem Nachweis seiner Vorliebe für geistige Getränke aller Art sowie einem Holzbein, mit dem er verbittert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekommen war, gebärdete sich ihnen gegenüber wie ein Zuchtmeister. Seit seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft schikanierte er alle Menschen in seiner Umgebung. Wenn er zu viel getrunken hatte, was fast täglich der Fall war, machte er selbst vor Handgreiflichkeiten nicht halt. Ständig drohte er mit seinem Stock, den er als Gehhilfe benötigte. Er ging in seinem ungezügelten Zorn auf die Welt sogar so weit, wehrlose Opfer wie die schutzlose Olga vor aller Augen mit seiner Reitpeitsche durch Schläge auf ihr Hinterteil zu misshandeln, weil sie seine Stiefel, wie er behauptete, nicht blank geputzt hätte.

      Auf Tadek hatte es der Alte besonders abgesehen. Der Knecht war kein besonders kräftiger, aber ein ziemlich zäher Mann von etwa 35 Jahren, Musiker von Beruf. Der Altbauer beschimpfte ihn „Russenschwein“, wann immer er ihm unter die Augen trat. Doch lachte Tadek ihn jedes Mal aus seinen tiefbraunen Augen an, obwohl ein aufmerksamer Beobachter den Hass in seinen Augen hätte funkeln sehen können. Mit Bedacht murmelte er eine Antwort in seiner Muttersprache, sodass niemand verstand, was er gesagt hatte.

      Tage später, nachdem Tadek Hermann in der Scheune erwischt hatte, entdeckte der Bub ihn dösend unter einem Baum am Rande einer Weide. Von dort sollte er die Kühe zurück in den Stall treiben, gönnte sich aber noch eine Stunde des Müßiggangs.

      „Jungchen, mein Freund, komm her, ich zeig dir was“, rief er ihm schon von Weitem zu. Hermann eilte herbei, denn er hatte nach der geschilderten Begegnung seine Scheu vor ihm verloren. Er setzte sich neben ihn ins Gras. Tadek brach von einer Weide einen Ast ab und begann, aus dem Holz und der Rinde mit seinem Messer eine Flöte zu schnitzen.

      „Soll haben einen schönen Klang, die Flöte, wenn du sie spielst“, bedeutete er dem erwartungsvollen Jungen und bohrte acht Löcher in die ausgehöhlte Rinde. Anschließend drechselte er das Mundstück zurecht, steckte es oben in das offene Rindenröhrchen und ein Endstück in die untere Öffnung. Mit Speichel befeuchtete er das Mundstück eine Weile, bis es geschmeidig war. Als er mit seinem Werk zufrieden war, kündigte er lächelnd an: „Nun wollen wir Musik machen, mein kleiner Freund!“

      Er führte das Mundstück zwischen seine Lippen und zauberte auf der Flöte Töne hervor. Hermann war überrascht, mit welch einfachen Mitteln es möglich schien, ein Klanginstrument herzustellen und darauf zu musizieren. Wunderschön klang die Melodie in seinen kindlichen Ohren. Musik kannte er bis dato nur vom Gesang seiner Mutter in der Küche und ein paar Kinderliedern, die sie ihm beigebracht hatte. Nach einer Weile fragte Tadek den Jungen, ob er nicht ebenfalls einmal versuchen wolle, auf der Flöte zu spielen. Er zeigte ihm die notwendigen Fingergriffe und wiederholte den Anfang des Liedes, das er zuletzt hatte ertönen lassen. Hermann merkte sich genau, wie sich Tadeks Finger auf den Löchern bewegten, denn er besaß ein gutes Gedächtnis und konnte zu jener Zeit bereits Gedichte aufsagen, die seine Mutter ihm eingetrichtert hatte. Dann steckte er das Mundstück zwischen seine Lippen, um dem Spiel seines Lehrers nachzueifern. Doch gab die Flöte nur ein paar schrille Töne her.

      „Musst legen deine Fingerchen genau mitten auf die Grifflöcher, Jungchen!“, forderte Tadek ihn auf und half ihm, seine kleinen, noch ungelenken Finger richtig zu platzieren. Es dauerte nicht lange, bis es auch dem Jungen gelang, der Flöte reine Töne zu entlocken. Nachdem sie noch ein wenig geübt hatten, konnte er bereits eine erste kleine Melodie auf der Flöte spielen.

      Stolz und glücklich ging er abends mit seiner neuen Errungenschaft heim, erklärte seiner Mutter mit erstaunlicher Bestimmtheit, ein Musiker werden zu wollen, und trug ihr die gelernte Weise vor. Nachdem er auf ihre Frage hin geschildert hatte, wie er in den Besitz der Flöte gelangt war und wer ihn in ihrem Spiel unterwiesen hatte, fuhr sie ihn an: „Dieser Mann ist kein Umgang für dich! Ich verbiete dir jeden weiteren Kontakt mit ihm. Sollte ich dich jemals mit ihm erwischen, gibt es Hausarrest!“

      Hermann fand für ihre Aufregung keine Erklärung und erhielt auf seine Frage nach dem Warum? keine einleuchtende Antwort. Daher ließ er es erst einmal bei dem Verbot bewenden. Er wusste, dass es sich in seiner kleinen Welt kaum vermeiden ließ, Tadek über den Weg zu laufen. Jedes Mal sprach der Knecht ihn freundlich an, wenn sie sich begegneten. So blieb es nicht aus, dass Hermanns Zuneigung zu ihm von Tag zu Tag anwuchs. Tadek beschäftigte sich zu jener Zeit mehr mit ihm als sein Vater, der viel und lange zu arbeiten hatte und dem es an der notwendigen Zeit mangelte.

      Eines Tages zog Tadek eine Mundharmonika aus seiner Jackentasche hervor und entlockte ihr kunstfertig wunderschöne Melodien. Auch sang er mit seiner tiefen Bassstimme dem Jungen schwermütige Lieder aus seiner Heimat vor. Tadek verfügte über ein unerschöpfliches Repertoire und legte – im Nachhinein betrachtet – den Grundstock für Hermanns lebenslange Liebe zur Musik, die in dem kindlichen Wunsch gipfelte, selbst ebenfalls ein Musiker zu werden.

      Ganz ungetrübt blieb das Verhältnis der beiden indes nicht. Dies hing mit einer Begebenheit zusammen, auf die der Junge nicht vorbereitet war. Er schlich einmal wieder in die Scheune auf der Suche nach Abenteuern, als ein heftiges Stöhnen seine Neugier anlockte. Auf Zehenspitzen schlich er sich näher und erblickte hinter einigen aufgeschichteten Strohballen zwei halb nackte Körper, die etwas miteinander taten, wie er es ähnlich

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