Beispielhaft. Claus Karst

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Beispielhaft - Claus Karst

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seinen letzten langen Marsch zu begeben.“

      „Hast du eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?“, fragte Caro.

      „Nicht wirklich, wenn ich es mir inzwischen auch denken kann … Offensichtlich hat gespürt, dass die Zeit für seinen letzten Weg gekommen war. Er hatte sich zuletzt sehr zurückgezogen. Auch war er nie besonders mitteilsam, was seine Gefühle anging. Aber ich habe nicht mit ihm zusammengewohnt, wie du weißt. Vielleicht weiß meine Mutter mehr. Aber bei ihr sitzt der Schock über den plötzlichen Tod noch zu tief, um über meinen Vater zu sprechen.“

      Nach einer Pause, in der beide an den Toten dachten, nahm Caro das Gespräch wieder auf. „Wir können uns alle glücklich schätzen, ihn noch einmal so auf der Bühne erlebt zu haben, Lara. Er war nie besser als an dem Abend. In dieser Vorstellung hat er alles gegeben, mehr sogar noch, er hat an seine langjährigen Fans seine Künstlerseele verschenkt, hat sie ihnen geradezu geopfert. Weißt du, was ich vermute?“

      „Was?“

      „Er hat für dich gesungen, Lara!“

      „Für mich …? Meinst du nicht eher für dich?“

      „Nein“, sagte Caro, „für dich! Beiläufig hatte er mir mal Andeutungen gemacht über das Problem, das euch belastet hatte – ein Problem übrigens, das nie eins war. Ich habe ihn zwar geliebt, daraus mache ich kein Geheimnis, und du bist erwachsen genug, um dafür Verständnis aufzubringen. Nie und nimmer hätte ich mich freilich in eure Familie gedrängt. Er war mir als Freund und Mentor viel zu wertvoll, als dass ich unsere Beziehung durch eine Affäre einer Gefahr des Scheiterns ausgesetzt hätte. Möglicherweise hast du bis heute nicht das Glück gehabt, sein Wesen richtig kennenzulernen, weil er ständig auf Achse war. Glaub mir, es gab für ihn nur eine Beziehung, die für ihn selbst Erotisches barg: die Musik. Mit ihr war er vermählt, nichts anderes zählte. Er war übrigens stets ein wenig betrübt darüber, dass du seine Liebe zur klassischen Musik nicht teiltest, wenn ich das einmal nebenher erwähnen darf. Du hast ihn allerdings sehr glücklich gemacht, indem du zu der Vorstellung gekommen bist. Ich denke, er hat sich nichts sehnlicher gewünscht. Das hat er mir in der Pause gesagt. Mir ist aufgefallen, wie ein Ruck durch ihn ging, als er dich im Parkett sitzen sah. Danach lief er zu dieser einzigartigen Höchstform auf, die den Abend kennzeichnete. Er hatte so sehr darauf gehofft, dass du erscheinst, wie er mir vor der Vorstellung anvertraute, wollte aber keinen Druck auf dich ausüben. Leider bot sich mir wegen seines Zusammenbruchs danach keine Gelegenheit mehr, mit ihm zu sprechen, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten. Heute wissen wir, dass der Vorhang für den großen Sänger Wotan van Geel an diesem Abend gefallen war. Für immer. Endgültig.“

      Nach einer Weile sagte Lara: „Dann verstehe ich jetzt seinen Hinweis auf die Elefantengeschichte. Er hatte an einer Kreuzung seines Schicksalweges gestanden, gespürt, welchen Weg er einschlagen musste. Aber warum hat er nie darüber gesprochen?“

      „Glaub mir, Lara, er hat sich viele Gedanken über sein Leben gemacht. Bei dem letzten Glas Wein, das wir miteinander getrunken haben, hat er mir einen Einblick in sein Seelenleben gewährt. Er ließ durchblicken, schon lange Zeit einen immer stärker werdenden Drang zu verspüren, geradezu eine Besessenheit, seine Lebensbestimmung zu ergründen. Er war, wie viele Künstler, sein Leben lang nicht er selbst. Er erzählte, schon als Kind fremdbestimmt worden zu sein wie alle Kinder, die sich den Zwängen der Schule, des Berufs und der gesellschaftlichen Konventionen unterzuordnen hatten. Nach der Schule hatte er zwar das Glück, den Beruf zu erlernen, der seinen Vorstellungen entsprach, doch merkte er mit jeder neuen Rolle, dass er immer nur spielte. Jetzt spielen …, wie der Bajazzo in der gleichnamigen Oper singt, sagte er. Er hatte zu lachen, selbst wenn ihm nicht nach Lachen zumute war. Er hatte zu weinen, wenn er lieber gelacht hätte. Sein Leben lang ist er in Rollen geschlüpft, musste abends auf den Brettern jemand anderer sein. Gut, die Bretter haben ihm die Welt bedeutet, auch die Rollen, die er verkörpert hat. Dennoch hat er sich immer häufiger die Frage gestellt: Kann das der Sinn meines Lebens sein? Ist es, war es meine Bestimmung, den Hofnarren zu spielen, weil mein Beruf, meine Berufung dies mir auferlegte? Ist es, war es meine einzige Bestimmung, andere mit meinem Gesang, mit meinem Spiel zu erfreuen? Er wusste es nicht, wollte es aber wissen. Damit stellte sich für ihn ergänzend die Frage: Bin ich meiner Bestimmung gerecht geworden oder habe ich gefehlt, mich möglicherweise gar versündigt? Habe ich andere Lebensaufgaben nicht erkannt oder ignoriert, mich vielleicht zu wenig um meine Familie gekümmert? Warten auf mich noch Aufgaben, die zu bewältigen ich bereit sein muss? Er wollte eine Antwort auf seine Fragen. Daher hatte er beschlossen, nach seinem letzten Vorhang sich auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens zu begeben, so lange zu suchen, bis er eine befriedigende Antwort gefunden haben würde. Er wollte endlich er selbst sein dürfen!“

      „Warum nur hat er nie mit uns, mit seinen Angehörigen darüber gesprochen? Wir hätten ihn doch sicherlich verstanden.“

      „Er hat sich mir anvertraut. Sicherlich hätte er auch mit euch darüber gesprochen, bei einer gebotenen Gelegenheit. Leider hat der Tod das nicht mehr zugelassen, grausam wie er oft ist. Mit ihm ist nicht zu spaßen.“

      „Ich bin dir sehr dankbar für das Gespräch, Caro. Schade, dass meine Mutter nicht dabei ist. Sie hat sich nie von der Vorstellung befreien können, dass meinen Vater und dich mehr als eine innige Freundschaft verband. Die Gerüchte, die auch an ihre Ohren gelangt waren, haben leider ihr Herz vergiftet. Du hast von den Gerüchten sicher auch etwas mitbekommen.“

      „Ich bedaure auch, dass sie heute nicht dabei ist. Berichte ihr bitte, was ich dir erzählt habe. Gerne würde ich bald eine Gelegenheit nutzen, auch mit ihr über den wundervollen Mann zu sprechen, der an ihrer Seite lebte, auf den sie wirklich stolz sein kann.“

      Die beiden Frauen gingen als Freundinnen auseinander.

      Nach einem weiteren Monat setzte Johannes Holtz zu Ehren Wotan van Geels eine Aufführung von Verdis Messa da Requiem außerplanmäßig auf den Spielplan, bei der Wotan immer gerne den Basspart übernommen hatte. Caroline Bogaert ließ es sich nehmen, die Sopranpartie zu singen. Johannes Holtz gedachte Wotans künstlerischem Schaffen in einer Ansprache. Er schloss mit den Worten: „Dieses Haus wird sein Andenken in Ehren halten, und ich bin froh, dass die Technik der heutigen Zeit seine großartige Stimme nicht in Vergessenheit geraten lässt. Wir alle hier dürfen uns glücklich schätzen, ihn live auf der Bühne erlebt zu haben. Ruhe er in Frieden und erfreue er, wo immer er sich jetzt aufhält, alle mit seinem Gesang.“

      Erinnerungen an Tadek

      Als Hermann D. das Buch aufschlug, das ihm ein guter Freund ein paar Tage zuvor als Geburtstagsgeschenk überreicht hatte, öffnete sich mit einem Mal ein lange verschlossenes Fenster im Haus seiner Erinnerungen und gab einen Blick zurück in seine Kindheit frei. Das Buch erinnerte an Deutschlands unrühmlichste Vergangenheit und enthielt eine Sammlung von Geschichten und Gedichten, geschrieben von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg. Hermann war in jener Zeit aufgewachsen, doch die meisten seiner Erinnerungen hatten sich im Laufe seines Lebens im Nebel einstigen Geschehens davongestohlen.

      Bereits beim Überfliegen des Klappentextes erwachten unvermittelt Bilder aus seiner Kindheit, die tief in seinem Unterbewusstsein geschlummert hatten, Lebenserinnerungen, die teils auf Erleben, teils auf Hörensagen beruhten. Mit den Bildern tauchte ein Mann aus dem Dunst der Erinnerungen auf, der ihm damals viel, der ihm alles bedeutet hatte, ein Mann, der in seiner frühen Kindheit viel zu seiner persönlichen Entwicklung beigetragen hatte.

      Hermanns Familie wohnte in jenen Tagen am Rande einer Großstadt des Ruhrgebiets, in einem die Villa genannten Wohnhaus, das zu einem landwirtschaftlichen Gut gehörte. Dort lebte sie in ausreichender Entfernung von den alliierten Bombenangriffen auf die Anlagen der nahen Rüstungsindustrie, die im Visier der

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