Amélie - Wo Schatten ist. Genèvieve Dufort
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Читать онлайн книгу Amélie - Wo Schatten ist - Genèvieve Dufort страница 8
»Hey, hörst du eigentlich zu, wenn man dir was sagt?!«, herrschte Raphael sie an.
»Nein«, antwortete sie, überraschend laut und deutlich.
Ihr Bruder sah erstaunt auf. »Sag' mal, du bist wohl total bescheuert, was?«, schrie er sie ruppig an und wiederholte seinen vorherigen Befehl: »Ich habe dir gesagt, du sollst mir die Schuhe holen, verdammt noch mal!«
Amélie war ein anderer Mensch geworden. Inès hatte sie auf schnelle Weise erwachsen werden lassen. Oh nein, nicht Inès, korrigierte sie sich. Es war dieser Mann. Ein anderes junges Ding hätte das Ganze vielleicht für lange Zeit geschockt, aber nicht mich. Mich hat es aufwachen lassen. Jetzt weiß ich endlich Bescheid! »Hol dir deine blöden Schuhe doch selbst!«, erwiderte sie entschieden und mit fester Stimme.
In diesem Moment schaute sogar ihr betrunkener Vater auf, aber er sagte nichts.
»Hat die gerade was gesagt?« Nach langer Zeit blickte Gabrielle ihre Tochter wieder einmal richtig an.
»Stimmt es, dass du deinen ›Mac‹ damals brutal die Kehle durchgeschnitten hast? Dass du ihn umgebracht hast?«, fragte Amélie unvermittelt in die eingetretene Stille hinein.
Gabrielles Gesicht lief blaurot an. »Wer hat dir denn diesen Stunk erzählt?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich will nur wissen, ob es stimmt«, beharrte Amélie.
Raphael lachte und schlug sich amüsiert auf die Oberschenkel. »Da spielt sie die ganze Zeit die Hirnlose und hat es dabei faustdick hinter den Ohren!«, grölte er. »Oh verdammt, wenn diese Fotze nur ein wenig hübscher wäre, ich würde sie glatt auf den Strich schicken. Die würde uns garantiert das große Geld einbringen, und wir müssten endlich nicht mehr von der Fürsorge leben.«
Einen Augenblick lang war sie in der Versuchung, gegen seine Beleidigung aufzubegehren und ihnen das Geld zu zeigen. Doch dann schob sie ihr Kinn vor und dachte: Ihr könnt meinetwegen über mich denken, was immer ihr wollt. Ich weiß, dass ich mit euch nichts gemein habe … Ich gehöre überhaupt nicht zu euch! Da ihre Mutter noch immer schwieg, was sonst gar nicht ihre Art war, war Amélie sicher, dass Inès die Wahrheit gesprochen hatte. Sie war geschockt, verstand aber zugleich, dass ihre Mutter für sich nach einem Ausweg gesucht hatte – wenngleich der kläglich gescheitert war.
»Die zehn Jahre sind doch längst rum, ›Maman‹!«, meldete sich Raphael zu Wort. »Du kannst es ihr ruhig erzählen!«
»Halt deine vorlaute Schnauze!«, fuhr Gabrielle ihren Sohn an.
»Was hast du gesagt?«, lallte ihr Vater dazwischen.
Amélie betrachtete die bizarre Familienidylle. Nein, dachte sie, ich werde mein Leben ganz anders aufbauen. Ich werde nicht in diesem Sumpf bleiben. Mit meinem Wissen kann ich eine ganze Menge anfangen. Mir macht keiner mehr etwas vor. Ich werde es euch allen zeigen. Ihr werdet euch noch wundern. Gestärkt und selbstbewusst durch ihr vermeintliches Wissen ging sie zur Tagesordnung über. »Ist das Essen fertig?«, richtete sie sich an ihre Mutter.
»Du willst wohl noch mal runter, oder?«, griente Raphael. »Hast du dein Umfeld heute nicht bereits genug erschreckt?« Verständnislos schüttelte er den Kopf. Dann versuchte er sie erneut einzuschüchtern und seinen Frust an ihr abzulassen. »Ich kapier' eh nicht, dass man dich auf der Straße überhaupt duldet. Aber vielleicht sind sie dir ja sogar dankbar, weil du als lebende Vogelscheuche, die Tauben vertreibst, damit die nicht laufend auf den Lack der Autos kacken!«
»Wenn du dein unflätiges Maul aufmachst, kommt nur Scheiße raus«, kam es leise, aber dennoch klar und deutlich über die Lippen ihrer Mutter. »Ich sagte dir eben schon, du sollst die Schnauze halten!«
»Von einer wie dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten!«, kreischte er respektlos.
»Solange du die Beine unter meinen Tisch stellst, werde ich das sehr wohl!«, gab sie ihm zu verstehen.
»Vielleicht solltest du deine einfach mal wieder breit machen«, kam es bissig zurück, »damit es hier mal was Richtiges zu fressen gibt.«
»Wenn ich dich anschaue, habe ich sie einmal zu oft breit gemacht!«, konterte Gabrielle und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
»Aber die Kohle vom letzten Bruch, die hast du eingesteckt, wie?«, versuchte er sich zu verteidigen.
»Du lebst hier und hast deinen Teil abzugeben. Such' dir gefälligst eine anständige Arbeit, ehe du endgültig in den Knast wanderst!«
Niemand kümmerte sich mehr um Amélie. Sie nahm sich einen Teller, häufte die spärlichen Kartoffeln darauf, die übrig geblieben waren und begann zu essen, während ihr Bruder zur Tür schlurfte.
»Ich komme morgen früh wieder«, ließ er alle wissen und fügte an sie gewandt hinzu: »Penn‘ bloß nicht wieder in meinem Bett, verstanden?«
Amélie hatte einen kleinen Verschlag in der Küche, in dem ihr Bett stand und wohin sich der ganze Mief zog. Gleich hinter der Bretterwand befand sich das elterliche Schlafzimmer. Sie hasste es, dort schlafen zu müssen. Nachdem sie gegessen hatte, stellte sie den Teller zum übrigen Abwasch und schlich wieder aus der Wohnung.
***
Kapitel 4
»Da bist du ja wieder!«, stellte Inès überrascht fest.
Inzwischen war es Dunkel in den Straßen von ›Goutte d'Or‹. Die vereinzelten Neonröhren versuchten verzweifelt, ein wenig die Illusion von Leben und Licht herbeizuzaubern. Aber hier, ganz am Ende der Straße, wo nur noch die verbrauchten Huren standen, kam davon nichts an.
Inès durfte auch in der Nacht hier stehen, weil sie für die anderen eine ›abartige Nutte‹ war, die ausschließlich Freier mit auf ihr Zimmer nahm, mit denen niemand sonst etwas zutun haben wollte. »Na, wie schaut's aus, ›Ma Petit‹? Was hat Gabrielle zu dem Geld gesagt?«
»Ich habe es ihr nicht gegeben.«
»Richtig so! Du lernst wirklich schnell«, grinste Inès lobend.
Amélie lehnte sich gegen die Hauswand und beobachtete die Freier, die wie liebeskranke Kater um die Mädchen herumstrichen, alle auf der Suche nach einer schnellen Befriedigung ihrer Lust. »Sag' mal, hast du das wirklich ernst gemeint?«, griff sie nach einer Weile den Faden von vorhin wieder auf.
»Was meinst du?«, fragte Inès nach, ohne ihren Blick auf der Suche nach Kundschaft von der Straße zu lösen.
»Das du etwas aus mir machen kannst.«
In Inès' Augen lag plötzlich ein gieriger Glanz. »Du willst das also wirklich?«
»Ja, ich denke schon.«
»Nun, ich bin sicher, dass ich dir so einiges beibringen könnte.« Jetzt hatte Amélie ihre ganze Aufmerksamkeit. »Ich glaube, du hast das Zeug dazu. Ehrlich, ich sehe es dir an. Du bist ein abgebrühtes, kleines Luder. Eine geborene Domina!«
Bin