Marijana. Reiner Kotulla
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„Natürlich, da hast du recht. Auch ich überlege manchmal, schon während meines Unterrichts, ob die, die da vor mir sitzen, überhaupt etwas lernen wollen. Und oft glaube ich, diese Frage mit einem glatten Nein beantworten zu können. Da frage ich mich natürlich, warum ich das überhaupt tue.“
„Genau, Volker, so habe ich das gemeint.“
Simone und Charlene hatten bisher nur zugehört. Jetzt mischte sich Simone ein. „Also, ich stelle mir die Frage in dieser Weise nicht. Ich lerne, um ein bestimmtes Ziel erreichen zu können.“
„Genauso geht es mir auch, Simone“, bestätigte Charlene.
Es entstand eine Pause. Alexander dachte über das nach, was die beiden Frauen gesagt hatten. „Ihr seid in einer anderen Situation, weil ihr euer Berufsziel noch nicht erreicht habt.“
„Doch, Alexander, nur stelle ich mir die Frage anders. Ich frage mich manchmal, warum ich dieses oder jenes überhaupt lernen muss.“
„Sicher, Charlene, das frage ich mich auch manchmal, aber zu deiner Frage, Alexander, hast du darauf schon eine Antwort gefunden?“
„Nein, ihr seid aber Leserinnen. Mich interessiert schon, warum ihr lest.“
„Das kommt darauf an, was ich lese“, wandte Charlene ein.
„Ich verstehe, Sachbücher, um zu lernen, aber warum liest du einen Roman?“
„Einfach nur so, um mich zu unterhalten.“
„Nur darum?“
„Ja, manchmal nur darum.“
„Und die anderen Male?“
„Wenn ich jetzt sage, auch um etwas zu lernen, dann klingt das vielleicht doch etwas blöd, aber ich meine da eine andere Art zu lernen. Im Moment fällt mir aber kein Beispiel dazu ein.“ Wieder entstand eine Pause.
„Ich will es versuchen. Wir sind beim Essen. Vielleicht ein Beispiel dazu.“ Alexander hatte Messer und Gabel auf seinen Teller gelegt, aus dem Weinglas getrunken, den Stuhl ein wenig nach hinten geschoben und seine Beine übereinandergeschlagen. „Vor Kurzem saß ich im Einkaufszentrum Forum in einem der Cafés. An einem Tisch, mir gegenüber, saßen vier Männer, alle so um die dreißig. Sie aßen, und ihre Essweise unterschied sich nur darin, dass sich ihre Köpfe beim Aufnehmen der Speise in unterschiedlicher Höhe zum Teller befanden. Alle vier benutzten nur die Gabel, die sie in der rechten Hand hielten, etwa so, wie man einen Hammer hält. Ihren linken Unterarm hatten sie komplett auf den Tisch gelegt, wie um ihren Teller vor fremdem Zugriff zu schützen. Nur einer der Männer löste beim zum Mundführen der Gabel seinen rechten Ellenbogen von der Tischplatte. Ihr versteht, was ich meine?“
„Sie saßen also etwa so“, sagte Volker und versuchte die von Alexander beschriebene Sitzhaltung nachzuahmen.
„Genau so, Volker.“
„Jetzt komm schon zur Sache, Alex.“ Simone schien ungeduldig zu werden.
„Da bin ich doch die ganze Zeit. Wenn ich das so beschreibe, was will ich erreichen, wenn ich diese Art zu essen einer Person meiner Handlung zuordne?“
„Ich denke, sie soll dem Leser unsympathisch erscheinen.“
„Und wenn der Leser auf dieselbe Weise isst?“
Jetzt ergriff Charlene das Wort. „Na ja, die Art zu essen wird ja nicht das einzige Charaktermerkmal sein, mit dem du beim Leser eine Antipathie gegen die Person erzeugen willst.“
„Jetzt verstehe ich, was du meinst, Alexander. Du machst die Person, indem du ihre Tischsitten beschreibst, in den Augen der Leser zum Kotzbrocken. Der Leser oder die Leserin, die in gleicher Weise die Gabel zum Mund führt, soll sich deinen Hinweis zu Herzen nehmen und sofort bei der Volkshochschule einen Kurs buchen: ‚Wie gebrauche ich beim Essen Messer und Gabel richtig‘. Sie hat also beim Lesen deines Romans etwas gelernt.“
Alexander kannte Simone, was ihre Art, die Ironie zu gebrauchen, betraf, recht gut. Also ging er darauf ein.
„Genau, Simone, so meine ich das. Und was deinen Freund Goethe betrifft“, Alexander spielte auf eine Arbeit an, die Simone im Fach Deutsch an ihrer Schule gefertigt hatte, „ist ja bekannt, dass der eine politisch operative Funktion der Literatur ablehnte. Diese sollte nicht, wie er sich ausdrückte, zu einem unmittelbaren, irdischen Zwecke, sondern zu einem höheren, geistigen, allgemeinen Zweck dienen.“
Charlene und Volker blickten eher skeptisch drein. Dann sagte Volker, indem er darauf einging: „Sie hörten ein Gespräch zum Thema ‚die Literatur als Lebenshilfe‘.“
„Im Ernst, Volker, ich denke schon, dass man auch aus einem unterhaltsamen Text etwas lernen kann.“
„Vielleicht, Alexander.“ Eine Zeit lang schwiegen alle, und es hatte den Anschein, dass sich keiner mehr zu dem Thema äußern wollte. Gemeinsam hatten sie abgeräumt, das Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Jetzt saßen sie im Wohnzimmer. Alexander hatte eine Flasche geöffnet. Simone berichtete von einem Film, den sie im Fernsehen gesehen und der sie beeindruckt hatte. Ein alter Mann, schon recht gebrechlich, erfährt, dass sein Bruder, den er schon Jahre nicht mehr gesehen hat, einen Schlaganfall erlitten hätte. Im Streit seien sie seinerzeit auseinandergegangen.
„Ohne dass viel gesprochen wird, merkt der Zuschauer bald, dass der Mann eine Reise zu seinem Bruder plant. Zuerst sieht man ihn auf seinem Rasentraktor sitzend Gras mähen. Dann schraubt er an einem Einachser Anhänger herum, konstruiert eine Dachverkleidung. Der Zuschauer erkennt, dass der Mann vorhat, mithilfe des Rasentraktors und angekuppeltem Anhänger, seinen Bruder zu besuchen. Durch ein Gespräch zwischen dem Alten und einem Freund wird deutlich, dass es sich um eine lange Reise über mehr als eintausend Kilometer handelt. Alle Warnungen in den Wind schlagend, macht der Alte sich schließlich auf den Weg. Allen Widrigkeiten und Hemmnissen zum Trotz erreicht er schließlich das Haus seines Bruders. Der tritt in dem Moment, als er ankommt, vor die Haustür. Die beiden schauen sich nur an, und in ihrer Mimik erkennt man die Versöhnung.“
„Was waren das für Widrigkeiten und Hemmnisse“, fragt Alexander nach.
„Ein Unfall, ein Schaden am Traktor, aber immer lernt der alte Mann Leute kennen, die ihn aufnehmen und ihm weiterhelfen. Ein modernes Märchen eben.“
Noch Tage später ging Alexander die Geschichte nicht aus dem Kopf, zumal sie ihn an ein eigenes Vorhaben erinnerte. Eines Abends, sie lagen schon im Bett, erzählte er Simone davon. „Ich sah vor einem Haus in Solms einen Traktor stehen. An dessen Frontseite hing ein Schild, dass das Fahrzeug eintausend Euro kosten sollte. Am Kühlergrill der Hinweis auf die Höchstgeschwindigkeit: zwanzig Kilometer pro Stunde. Da kam mir die Idee, dass man an diesen Traktor einen zum Wohnwagen ausgebauten Bauwagen hängen und damit über Land reisen könnte.“
„Und bei der Idee ist es geblieben?“
„Ja, schon, trotzdem wäre das doch eine Möglichkeit, einfach mit unbekanntem Ziel loszufahren, abends irgendwo anzuhalten, zu übernachten, um am nächsten Morgen weiterzufahren. Stell dir vor, zwanzig Stundenkilometer, schnell genug, um weiterzukommen und langsam genug, um schauen zu können.“
„So einfach geht das aber nicht. Der alte Mann im Film hatte deshalb einen Unfall, weil er auf einer abschüssigen Strecke mitsamt seinem Rasentraktor