Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi. Franz Gnacy
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Worin dieser Zusammenhang besteht, kann ich nicht fassen und nicht sagen; ich weiß aber, dass er besteht.
Ich erinnere mich, dass mir jemand sagte, in jedem Menschen existierten viele sehr gute, sehr menschenfreundliche Eigenschaften, aber auch sehr viel schlechte, viel Missgunst; und je nachdem, wie der Betreffende veranlagt sei, kämen bald die einen, bald die anderen Eigenschaften zum Vorschein. Das ist vollkommen richtig.
Der Anblick fremder Leiden erweckt nicht nur in verschiedenen Menschen, sondern in ein und demselben Menschen oft ganz entgegen gesetzte Gefühle: bisweilen Mitleid, bisweilen aber auch etwas wie Vergnügen, das sich zeitweilig bis grausamer Schadenfreude steigert.
Ich habe an mir bemerkt, dass ich auf alle Wesen bisweilen mit herzlichem Mitleid, bisweilen sehr gleichgültig, manchmal auch voll Hass und sogar Schadenfreude blicke.
Das zeigt deutlich, dass wir zwei verschiedene Arten der Erkenntnis besitzen: die eine, wenn wir uns als Einzelwesen erkennen, wenn alle Wesen uns völlig fremd erscheinen, wenn sie alle „Nicht-Ich“ sind. Dann können wir gegen sie nichts anderes als Gleichgültigkeit, Neid, Hass, Schadensfreude empfinden. Die andere Erkenntnisart ist die mittels des Bewusstseins unserer Einheit mit allen. Bei dieser Erkenntnisart erscheinen uns alle Wesen ebenso, wie unser Ich; deswegen erweckt ihr Anblick in uns Liebe.
Die eine Erkenntnisart trennt uns durch eine undurchdringliche Wand, die andere beseitigt die Wand und wir fließen in eins zusammen. Die eine Art lehrt uns erkennen, dass alle übrigen Wesen „Nicht-Ich“ sind; die andere lehrt, dass alle anderen Wesen ebensolche Ich sind, als welche ich mich erkenne.
Je mehr jemand für seine Seele lebt, umso mehr fühlt er seine Einheit mit allen Lebewesen. Leb für deinen Körper, so bist du allein zwischen lauter Fremden; leb für deine Seele, so sind alle dir verwandt.
Der Fluss gleich nicht dem Teich, der Teich nicht dem Fass, das Fass nicht der Kelle mit Wasser. Im Teich und Fluss, im Fass und in der Kelle ist aber ein und dasselbe Wasser. So sind auch alle Menschen verschieden; der Geist aber, der in ihnen lebt, ist in allen ein und derselbe.
Nur dann versteht man sein Leben, wenn man in jedem Menschen sich selbst erblickt.
Sprichst du mit jemandem und blickst ihm gerade in die Augen, so fühlst du dich mit ihm verwandt, fühlst gleichsam, dass du ihn schon längst gekannt hast. Woher rührt das? Daher, dass dasjenige, wodurch du lebst, in dir und ihm ein und dasselbe ist.
In jedem Menschen lebt der Geist, der das höchste ist in der Welt; deswegen: was jemand im Leben auch sein mag: Würdenträger oder Sträfling, Bischof oder Bettler – alle sind gleich, weil in jedem lebt, was das Höchste in der Welt. Einen Würdenträger höher als einen Bettler schätzen und verehren ist gerade so, wie eine Goldmünze mehr als eine andere schätzen, weil die eine in weißes, die andere in schwarzes Papier eingewickelt ist. Wir müssen uns stets vergegenwärtigen, dass in jedem Menschen dieselbe Seele lebt, wie in uns, und dass wir deswegen mit allen Menschen gleichmäßig behutsam und respektvoll verkehren müssen.
Das Wichtigste an der Lehre Christi ist, dass Er alle Menschen für Brüder erklärt. Er sah im Menschen den Bruder und liebte deswegen jeden, wie und wer er auch war. Christus sah nicht auf das Äußere, sondern auf das Innere. Er sah nicht auf den Körper, sondern Er erblickte durch den Putz des Reichen und die Lumpen des Bettlers die unsterbliche Seele. Im allerverkommensten Menschen erblickte Er etwas, das dieses gesunkene Wesen in den größten und heiligsten Menschen verwandeln konnte, einen ebenso großen und heiligen wie Er selbst war.
Kinder sind klüger als Erwachsene. Ein Kind unterscheidet die Menschen nicht nach ihrem Beruf, fühlt aber mit ganzer Seele, dass in jedem Menschen lebt, was in ihm und allen Menschen ein und dasselbe ist.
Wer nicht in jedem Nächsten denselben Geist spürt, der ihn selbst mit der ganzen Welt vereint, lebt wie im Traum. Nur der erwacht und lebt wirklich, der in jedem Nächsten sich und Gott sieht.
Nicht nur in allen Menschen, sondern in allem Lebenden existiert ein und dasselbe göttliche Wesen
Wir fühlen mit dem Herzen, dass das, wodurch wir leben, das, was wir unser Ich nennen, nicht nur in allen Menschen, sondern auch im Hunde, Pferde, in Mäusen, im Huhn, Sperling und in der Biene, sogar in Pflanzen ein und dasselbe ist.
Wenn Vögel, Pferde, Hunde, Affen uns ganz fremd sind, warum sind es dann nicht auch Wilde, schwarze und gelbe Rassen? Wenn wir aber diese Leute für Fremde erklären, können sie mit demselben Recht die weißen Rassen als Fremde bezeichnen. Wer ist dann der Nächste? Hierauf gibt es nur eine Antwort: „Frag nicht, wer dein Nächster ist, sondern behandle alle Lebewesen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“
Alles Lebende fürchtet Qualen, alles Lebende scheut den Tod; erkenne dich nicht nur im Menschen, sondern in jedem Lebewesen; töte nicht und verursache keine Leiden und Tod.
Alles Lebendige will dasselbe wie du; erkenne dich in jedem Lebewesen.
Der Mensch steht nicht deswegen über den Tieren, weil er sie quälen kann, sondern weil er imstande ist, Mitleid mit ihnen zu empfinden. Mitleid hat der Mensch mit Tieren, weil er fühlt, dass in ihnen ein und dasselbe Wesen lebt, wie in ihm selbst.
Mitleid mit allem Lebenden ist die erste Voraussetzung der Tugend. Wer mitleidig ist, beleidigt und kränkt nicht, sondern verzeiht. Ein guter Mensch kann nicht unbarmherzig sein. Wer ungerecht und böse, ist sicher unbarmherzig. Ohne Mitleid mit allem Lebenden gibt es keine Tugend.
Man kann sich das Mitleid abgewöhnen, das allen Menschen, Tieren gegenüber eigen ist. Das merkt man besonders auf der Jagd. Gute Menschen töten und quälen auf der Jagd Tiere, ohne eigene Grausamkeit zu bemerken.
„Du sollst nicht töten“ bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auf alle Lebewesen. Dieses Gebot ward dem Menschen früher ins Herz geschrieben, als auf die Gesetzestafeln.
Die Menschen halten es nicht für schlecht, Tiere zu verzehren, weil sie überzeugt sind, Gott hätte es erlaubt. Das ist nicht wahr. In welchen Büchern auch immer steht, es sei keine Sünde, Tiere zu töten und zu essen – im Menschenherzen steht deutlicher als in Büchern, dass man mit Tieren Mitleid haben muss und sie nicht töten darf, ebenso wenig wie Menschen. Wir alle wissen das, wenn wir die Stimme des Gewissens in uns nicht ersticken.
Wenn alle Die, die Tiere essen, diese Tiere selbst töten würden, würde die größere Hälfte der Menschen dem Fleischgenusse entsagen.
Wir wundern uns darüber, dass es Leute gab und gibt, die Menschen töten, um ihr Fleisch zu essen. Die Zeit wird aber kommen, und unsere Nachkommen werden sich wundern, dass ihre Vorfahren jeden Tag Millionen Tiere töten, um sie zu essen, obgleich man sich gesund und schmackhaft, ohne Mord, vor Früchten der Erde ernähren kann.
Man kann sich des Mitleids sogar gegen Menschen entwöhnen und sich andererseits an Mitleid mit Insekten gewöhnen.
Je mitleidiger jemand ist, umso besser für seine Seele.
Dasjenige, was in uns allen, in allen Menschen ein und dasselbe ist, fühlen wir sehr deutlich, dass dieses auch in Tieren vorhanden, fühlen wir schon nicht so deutlich. Noch weniger fühlen wir es in Insekten. Man braucht aber nur