Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi. Franz Gnacy
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In seinem abgesonderten Körper ein geistiges ungeteiltes Wesen – Gott wahrnehmend und denselben Gott in allem Lebenden erblickend, fragt sich der Mensch: warum hat Gott das geistige, einheitliche, unteilbare Wesen, nämlich Sich in getrennte Körper, in mich und andere Wesen eingeschlossen? Weshalb hat ein geistiges einheitliches Wesen sich gleichsam in sich selbst geteilt? Warum ist das Geistige, Unteilbare geteilt und körperlich geworden? Warum hat das Unsterbliche Sterblichem sich vereint?
Die Antwort hierauf kennt nur derjenige, der den Willen Dessen erfüllt, Der ihn ins Leben gesandt hat.
„Das geschieht zu meinem Heil“, sagte der Betreffende, „Ich bin dafür dankbar und frage nicht weiter.“
Das was wir Gott nennen, sehen wir am Himmel und in jedem Menschen.
Da blickt man im Winter nachts zum Himmel auf, sieht die Sterne, Sterne über Sterne ohne Ende. Und wenn man dann bedenkt, dass jeder von diesen Sternen viel, vielmal größer ist als die Erde, auf der wir leben und dass hinter den Sternen, die wir sehen, noch Hunderte, Tausende, Millionen ebensolcher und noch größerer Sterne sind, und dass weder Sterne noch Himmel ein Ende haben – so begreift man, dass es etwas gibt, was wir nicht erfassen können.
Wenn wir aber in unser Inneres blicken und das sehen, was wir unser Ich, unsere Seele nennen, etwas, was wir ebenfalls nicht zu begreifen vermögen, dabei aber besser als alles andere kennen, und durch das wir alles Existierende erkennen - : so sehen wir in unserem Inneren etwas noch Verständlicheres und Größeres, als das, was wir am Himmel wahrnehmen.
Eben das, was wir am Himmel sehen und das, was wir in uns in unserer Seele erkennen, nennen wir Gott.
Zu allen Zeiten, bei allen Völkern hat der Glaube an eine unsichtbare Macht gelebt, die die Welt erhält.
Die alten nannten diese Macht: Weltvernunft, Natur, Leben, Ewigkeit; Christen nennen sie: Gott, Vater, Herr, Vernunft, Wahrheit.
Die sichtbare, veränderliche Welt ist gleichsam der Schatten dieser Macht.
Wie Gott ewig ist, ist es auch die sichtbare Welt – Sein Schatten. Sie ist aber nur ein Schatten. Wirklich existierend ist nur die unsichtbare Macht: Gott.
Es gibt ein Wesen, ohne dass weder Himmel noch Erde wäre. Dieses Wesen ist ruhig, körperlos; seine Eigenschaften heißen: Liebe, Vernunft, das Wesen selbst hat keinen Namen, es ist das Allerentfernteste und Nächste.
Jemand wurde gefragt: woher er wüsste, dass Gott existiere? Er erwiderte: Ist Licht zur Morgenröte nötig?
Wenn jemand etwas für groß hält, heißt das, dass er die Dinge nicht von der Höhe Gottes ansieht.
Es ist möglich, dass man an die Unendlichkeit der Welt und an die sich selbst erkennende Seele nicht denkt; sobald man aber darüber nachdenkt, muss man zu dem kommen, was wir Gott nennen.
In Amerika lebt ein blind und taubstumm geborenes Mädchen. Sie lernte durch Tasten Lesen und Schreiben. Als die Lehrerin ihr erklärte, was Gott sei, sagte das Mädchen, sie habe Ihn schon immer gekannt und nur nicht gewusst, wie Er genannt würde.
Gottes Wille
Wir erkennen Gott weniger mit dem Verstande, als dadurch, dass wir uns in seiner Macht fühlen, in der Art eines kleinen Kindes auf dem Arm der Mutter.
Das Kind weiß nicht, wer es hält, wärmt und nährt; weiß aber, dass jemand tut – ja, weiß es nicht nur, sondern liebt das Wesen, in dessen Macht es sich befindet. Dasselbe ist mit großen Menschen bei Gott der Fall.
Je mehr jemand Gottes Willen erfüllt, umso besser kennt er Ihn.
Jemand, der Gottes Willen gar nicht erfüllt, kennt Ihn gar nicht, selbst wenn er Ihn zu kennen behauptet und zu Ihm betet.
Wie man jedes Ding nur erkennt, wenn man nahe herantritt, so erkennt man auch Gott nur, wenn man sich Ihm nähert. Sich Ihm nähren kann man aber nur durch gute Werke. Je mehr jemand sich daran gewöhnt, ein gutes Leben zu führen, umso näher lernt er Gott kennen. Und je näher man Gott kennen lernt, umso mehr gewinnt man die Menschen lieb. Eins fördert das andere.
Gott können wir nicht kennen. Das einzige, was wir von Ihm wissen, ist Sein Gebot, Sein Wille, wie er im Evangelium ausgedrückt ist. Daraus, dass wir Sein Gebot kennen, folgern wir, dass Derjenige existiert, Der das Gebot erlassen hat. Ihn selbst aber können wir nicht kennen. Wir wissen sicher nur, dass wir im Leben das von Gott gegebene Gebot erfüllen müssen und dass unser Leben umso besser ist, je genauer wir Sein Gebot erfüllen.
Jeder Mensch muss fühlen, dass durch sein Leben etwas geschieht, dass er jemandes Werkzeug ist. Wenn er aber jemandes Werkzeug ist, existiert auch jemand, der mit diesem Werkzeug arbeitet. Dieser Jemand, der mit dem Werkzeug arbeitet, ist Gott.
Wunderbar, dass ich früher die einfache Wahrheit nicht habe erkennen können, dass hinter dieser Welt und unserem leben in ihr jemand, etwas ist, das weiß, wozu diese Welt existiert und wozu wir in ihr sind, wie Blasen im Wasser an die Oberfläche steigen, zerplatzten und verschwinden.
Ja, es geschieht etwas in dieser Welt mit allen Lebewesen, auch mit mir und meinem Leben. Wozu wäre sonst die Sonne, der Frühling, Winter, und wozu diese Leiden, Geburt, Tod, Wohltaten, Missetaten, - wozu all diese Einzelwesen, die augenscheinlich für sich keinen Sinn haben und doch mit aller Kraft leben, an ihrem Leben hängen, Wesen, in denen das Leben fest verankert ist. Das Leben dieser Wesen überzeugt mich am meisten davon, dass alles das für ein vernünftiges, gutes, mir allerdings nicht zugängliches Werk erforderlich ist.
Mein geistiges Ich ist meinem Körper nicht ähnlich; folglich weilt es im Körper nicht durch meinen, sondern durch einen höheren Willen.
Dieser Wille ist das, was wir unter Gott verstehen und so nennen.
Gott kann man weder verehren noch loben. Über Gott kann man nur schweigen und Ihm dienen.
Solange jemand singt, schreit und vor allen Leuten sagt: O Gott, Gott! – hat er Gott nicht gefunden. Wer Ihn gefunden hat, der schweigt.
In bösen Augenblicken fühlt man Gott nicht, zweifelt an Ihm. Die Rettung liegt stets in einem sicheren Mittel: nicht mehr an Gott denken, sondern nur an Sein Gebot, und dieses erfüllen. Alle lieben – dann enden sofort die Zweifel, und man findet Gott wieder.
Mit dem Verstande kann man Gott nicht erkennen
Gott in sich fühlen kann man. Das ist nicht schwer. Aber erkennen, was Er ist – das ist unmöglich und unnötig.
Man kann nicht mit dem Verstande begreifen, was Gott und die menschliche Seele sind; ebenso kann man nicht begreifen, dass es keinen Gott und keine menschliche Seele gibt.
Warum bin ich von allem übrigen getrennt; warum weiß ich, dass alles das existiert, wovon ich getrennt bin, und warum kann ich nicht begreifen, was alles das ist? Warum ändert mein Ich sich unaufhörlich? Das kann ich nicht begreifen. Ich kann aber nicht anders, als annehmen, dass in alledem ein Sinn liegt – dass es ein Wesen gibt, für das alles das verständlich ist, das weiß,