Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi. Franz Gnacy

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Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi - Franz Gnacy

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nicht das körperliche Leben lebt.

      Christus lehrt die Menschen, dass in ihnen etwas ist, was sie über dieses Leben mit seinem Jagen, seiner Angst und Lust emporhebt. Wer die Lehre Christi begreift, hat dasselbe Gefühl, wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen und frei sein kann und nichts zu fürchten braucht.

       Das Gewissen ist die Stimme der Seele

      In jedem Menschen leben zwei Wesen: ein blindes körperliches, und ein sehendes, geistiges. Das erste, blinde, isst, trinkt, arbeitet, ruht sich aus, pflanz sich fort usw. alles wie eine aufgezogene Uhr. Das andere, sehende, geistige Wesen tut selbst nichts, sondern billigt oder missbilligt nur, was das blinde, animalische Wesen tut.

      Den sehenden, geistigen Teil eines Menschen nennt man Gewissen. Dieser geistige Teil, das Gewissen, funktioniert genau wie die Magnetnadel in einem Kompass. Die Nadel rückt nur dann von der Stelle, wenn der Träger des Kompasses von dem Wege abweicht, den die Nadel angibt. Dasselbe ist mit dem Gewissen der Fall: es schwiegt solange der Mensch seine Pflicht tut. Sobald man aber vom richtigen Wege abweicht, zeigt das Gewissen an, wie weit und wohin man abgeirrt ist.

      Wenn wir hören, dass jemand etwas Schlechtes begangen hat, sagen wir: er hat kein Gewissen.

      Was ist denn das Gewissen? Die Stimme des einen geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt.

      Das Gewissen ist das Bewusstsein des geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt. Nur wenn es dieses Bewusstsein ist, ist es ein richtiger Führer auf dem Lebenswege. Es kommt aber oft vor, dass Menschen für das Gewissen nicht das Bewusstsein dieses geistigen Wesens halten, sondern dasjenige, was von ihren Mitmenschen für gut oder schlecht gehalten wird.

      Die Stimme der Leidenschaften kann lauter sein, als die des Gewissens; sie ist aber ganz anders, als die ruhige, hartnäckige Stimme, mit der das Gewissen zu uns spricht. Wie laut die Leidenschaften auch schreien vor der leisen, ruhigen, hartnäckigen Stimme des Gewissens werden sie dennoch zaghaft. Aus dieser Stimme spricht das Ewige, Göttliche, das im Menschen lebt.

      Kant sagt: zwei Dinge setzen ihn am meisten in Erstaunen: der gestirnte Himmel über ihm und die Stimme des Gewissens in der Seele des Menschen.

      Das wahre Gute liegt in dir, in deiner Seele. Wer das Gute nicht in sich sucht, handelt wie der Hirt, der das Lamm in der Herde sucht, das er am Busen trägt.

       Das Göttliche der Seele

      Zunächst erwacht im Menschen das Bewusstsein seiner Getrenntheit von allen übrigen Dingen, das heißt: seines Körpers. Dann das Bewusstsein dessen, was getrennt ist, d.h. seiner Seele; hierauf das Bewusstsein dessen, wovon diese geistige Grundlage des Lebens getrennt ist. Das ist das Bewusstsein des All: Gott.

      Eben dieses Etwas, das seine Trennung vom All, von Gott erkannt hat, ist das eine geistige Wesen, das in allen Menschen lebt.

      Sich als ein getrenntes Wesen erkennen, heißt die Existenz dessen erkennen, wovon man getrennt ist: die Existenz des All: Gottes.

      „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: es kommt die Stunde, und sie ist schon da, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selber.“

      Der Tropfen, der ins Meer fällt, wird zum Meer. Die Seele, die sich mit Gott vereinigt, wird Gott.

      Wenn jemand eine Wahrheit ausspricht, heißt das nicht, dass sie von ihm ausgegangen ist. Jede Wahrheit rührt von Gott her. Sie geht nur durch den Menschen durch. Wenn sie durch diesen und nicht durch einen anderen hindurchgeht, so rührt das nur daher, dass der betreffende es verstanden hat, sich so durchlässig zu machen, dass die Wahrheit durch ihn hindurch gehen konnte.

      Gott sagt: Ich war ein Schatz, den niemand kannte. Und wünschte bekannt zu werden. Da schuf ich den Menschen.

      Gott kann man nicht mit dem Verstande begreifen. Wir wissen nur deswegen, dass Er ist, weil wir Ihn nicht mit dem Verstande, sondern dadurch begreifen, dass wir Ihn in uns erkennen.

      Um wirklich Mensch zu sein, muss man Gott in sich erkennen.

      Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist genau so, wie die: ob ich bin? Das, wodurch ich lebe, ist ja gerade Gott.

      Der Körper ist die Speise der Seele, das Holz, aus dem das wahre Leben gebaut wird.

      Die größte Freude, die jemand erfahren kann, besteht darin, dass man das freie, vernünftige, liebende und deswegen glückliche Wesen in sich – dass man Gott in sich erkennt.

      Wenn jemand sich selbst nicht kennt, kann man ihm nicht raten, er sollt sich bemühen, Gott zu erkennen. Das kann man nur jemandem raten, der sich selber kennt. Bevor man Gott kenne lernt, muss man sich selbst kennen.

      Wenn ich an Gottes Feuer zu brennen anfange, drückt Gott mir seinen Stempel auf.

      Die Seele ist Glas; Gott: das Licht, das hindurch scheint.

      Ich muss nicht glauben, dass ich lebe. Nicht ich lebe, sondern das geistige Wesen in mir. Ich bin nur die Öffnung, durch welche dieses Wesen erscheint.

      Nur ich und Du sind. Wenn wir beide nicht wären, wäre nichts in der Welt.

      Gott kenne ich nicht dann, wenn ich glaube, was mir andere von Ihm sagen, sondern wenn ich Ihn so kenne, wie meine Seele.

      Ich bin für Gott – ein zweites Ich. Er findet in mir, was Ihm ewig gleicht.

      Der Mensch hört gleichsam stets eine Stimme hinter sich, kann aber den Kopf nicht umdrehen und nicht sehen, wer da spricht. Diese Stimme spricht in allen Sprachen, lenkt alle Menschen – aber noch nie hat jemand Den gesehen, Der spricht. Wenn der Mensch dieser Stimme gehorcht, sie so in sich aufnimmt, dass er sich sogar in Gedanken nicht von ihr trennt, so fühlt er, dass diese Stimme und er ein und dasselbe sind. Und je mehr der Mensch diese Stimme für sein Ich hält, umso besser ist ihm. Die Stimme offenbart ihm die Seligkeit, weil sie die Stimme Gottes im Menschen ist.

      Gott wünscht allen Gutes. Wenn du also allen Gutes wünscht, d.h. wenn du liebst, lebt in dir Gott.

      Mensch, bleibt nicht Mensch. Werd’ Gott – nur dann machst du aus dir, was du musst.

      Man sagt: seine Seele retten. Retten kann man nur, was zugrunde gehen kann. Die Seele kann nicht zugrunde gehen, weil sie allein ist. Nicht retten muss man eine Seele, sondern sie von dem reinigen, was sie verfinstert, beschmutzt; muss sie mehr und mehr aufklären, damit Gott besser hindurch scheint.

      Man sagt: „Hast du den Gott vergessen?“ Das ist ein gutes Wort. Gott vergessen heißt Den vergessen, Der in uns lebt und durch Den wir leben.

      Wie ich Gott brauche, braucht er mich.

      Wenn du schwach wirst, und dir schwer wird, denk daran, dass du eine Seele hast, durch die du sehen kannst. Wir denken stattdessen, ebensolche Leute wie wir könnten uns helfen.

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