Gelebt. Josephine Odrig

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ob eine künstliche Ernährung eine angebrachte Maßnahme sei, war nicht leicht. Und immer verfolgten mich die Gedanken, ob es wohl richtig war. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Essen einfach wegzulassen. Es gibt da ja mittlerweile wirklich gute Sachen in der Palliativmedizin. Aber verhungern lassen – wer will das seiner eigenen Mutter antun? Und deswegen haben wir uns eben so entschieden. Es hat ja keiner gewusst, dass es noch so lange – ganze vier Jahre! – gehen würde. Und dabei hätte das letzte Jahr nicht sein müssen! Jedenfalls wäre ihr und auch uns sehr viel Leid erspart geblieben. Aber dieser Arzt, dieser…“, seine Frau fasste ihn etwas fester am Arm und zog ihn leicht zu sich: „Ist gut, Willi.“

      Herr Häußler hatte sich in Rage geredet. Jetzt schien er plötzlich wieder in sich zusammenzufallen. Wie ein kleines Häufchen saß er neben seiner Frau und starrte vor sich hin. „Wissen Sie, ich kann niemanden leiden sehen. Schon gar nicht einen Menschen, den ich liebe. So hatten wir uns Mutters Ende nicht vorgestellt. Diesen Anblick…ich werde das nicht vergessen. Nie. Und Lettie, meine liebe Lettie. Sie hat so gelitten. Frau Rechtsanwältin, bitte finden Sie einen Weg, dieses unnötige Leid … Wenigstens eine kleine Entschädigung!“ Jetzt schaute Herr Häußler voller Erwartung. Auch seine Frau blickte Thela hoffnungsvoll an.

      „Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, wie leid mir die ganze Situation tut.“ Beide Gesichter verloren etwas von ihrer hoffnungsvollen Erwartung. Plötzlich schlich sich Traurigkeit, Resignation und Enttäuschung in ihre Gesichter. „Es tut mir leid, dass Ihnen und Ihrer Mutter das Schicksal so mitgespielt hat.“ Die beiden nickten nur stumm. „Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass …“, jetzt wurde die Sache heikel und ein diplomatischer Ton war gefragt. Andernfalls konnte sich Thela den Ärger des Ehepaares zuziehen, was nie gut für den anwaltlichen Ruf war, „… mir rechtlich nur eingeschränkte Mittel zur Verfügung stehen. Ich möchte Ihnen gerne helfen. Eine kleine Möglichkeit dafür sehe ich auch.“ Wieder etwas Hoffnung in den Gesichtern ihr gegenüber. „Aber Ihnen sollte trotz allem bewusst sein, dass ihr Schmerz, ihre Trauer und das jahrelange Leid dadurch nicht verschwinden. Mit rechtlichen Maßnahmen können wir vielleicht finanziell ein wenig herausbekommen, aber den Rest – all das, was auf ihrer Seele lastet und was Sie erfahren mussten – kann ich nicht wegzaubern oder heilen. Das vermag nur die Zeit.“

      Meistens war ihre Tätigkeit vor allem psychologische Arbeit. Insoweit hatte Thela doch noch ihren früheren Wunschberuf ergriffen. Wie viele Mandanten kamen zu ihr und erhielten vor allem Trost und einen Menschen, der ihnen zuhörte. Ab und zu kam es gar nicht auf rechtliche Schritte an. Da ist schon manch ein Mandant, ohne Thelas juristisches Fachwissen zu benötigen, wieder gegangen. Meist mit zumindest ein wenig erleichterter Seele.

      „Hm, das ist uns schon bewusst. Ja. Was sehen Sie denn für eine Möglichkeit?“ Jetzt war es wieder die Hoffnung, die das Ehepaar aufrecht sitzen ließ, voller Erwartung einer großen Neuigkeit. „Nun, wie ich Ihnen bereits letztes Mal angedeutet habe, bedarf es gewisser Voraussetzungen, eine Sonde anzuordnen, da dies eine medizinische Maßnahme ist. So muss zum einen die künstliche Ernährung medizinisch indiziert sein, so nennt man die Notwendigkeit für eine medizinische Leistung. Zum anderen muss der Patient, also Ihre Mutter, den Willen haben, künstlich ernährt zu werden.“ Thela machte eine kurze Pause, damit das Ehepaar diese juristische Information verarbeiten konnte. „Wenn wir also nachweisen können, dass diese Ernährungsform im letzten Jahr nicht mehr medizinisch indiziert, also angebracht, gewesen ist und wenn sich der Wille Ihrer Mutter zumindest zu diesem Zeitpunkt auch gegen eine PEG-Sonde gerichtet hat, dann könnten Sie eine Chance haben, eine gewisse Entschädigung zu erhalten – zum Beispiel Schmerzensgeld. Und vielleicht auch die Behandlungskosten.“

      Nun schien Herr Häußler dringend eine Frage loswerden zu wollen. Er schaute nach wie vor aufmerksam und jetzt mit noch mehr Hoffnung im Blick. Aber um das soeben Gesagte auch in der gesamten Tragweite zu verstehen, bedurfte es noch der Klärung nicht weniger Punkte. „Aber Frau Rechtsanwältin, wie sie selbst vorhin bereits wiedergegeben haben, ist meine Mutter die letzten Jahre gar nicht mehr ansprechbar gewesen. Das heißt doch auch, dass sie gar nicht sagen konnte, was sie wollte. Ich meine, wie sollte sie denn ihren Willen mitteilen?“ Der Mann war ein wenig ratlos. „Nun, es gibt den tatsächlich mitgeteilten Willen – das ist der, den sie gerade ansprechen. Diese Äußerung ist bei Ihrer Mutter nicht mehr möglich gewesen. Aber man kann auch noch, was bei solchen ärztlichen Maßnahmen nicht selten der Fall ist, nach einem mutmaßlichen Willen urteilen. Das heißt, es muss herausgefunden werden, was Ihre Mutter wollte beziehungsweise gewollt hätte. Hätte Sie sich für oder gegen die Sonde entschieden? Immer ausgehend von der aktuell vorliegenden Krankheitssituation. Beim Feststellen des mutmaßlichen Willens hilft eine Patientenverfügung ungemein. Aber Sie haben mir ja bereits letztens versichert, dass Ihre Mutter leider keine solche hatte.“ Dieser Umstand machte die Feststellung des mutmaßlichen Willens immer wesentlich komplizierter, vor allem das Beweisen vor Gericht.

      Herr Häußler nickte: „Leider nein. Aber das mit dem mutmaßlichen Willen kommt mir bekannt vor. Das war schon damals Thema, als wir das mit der Einrichtung der Sonde entscheiden mussten. Stimmt, jetzt fällt’s mir wieder ein“, merklich kamen ihm wieder die Erinnerungen. „Wissen Sie, meine Mutter machte sich selten über sowas Gedanken, soweit ich weiß. Zumindest sprach sie nicht davon. Sie glaubte, es würde Unglück bringen, wenn sie über Krankheiten oder den Tod in größeren Details sprach. Da war sie eigen. Und außerdem wollte sie sich darüber einfach keine Gedanken machen.“ Thela nickte. Diese Geschichten kannte sie nur zu gut. Es war oft so, dass sich ältere Menschen, wahrscheinlich ein Generationenproblem, keine Gedanken über die Zukunft machen wollten. Das wird schon klappen. Passt schon so. Wieso sollte denn jemand nicht wissen, was ich denke? Oder wieso sollte denn jemand anders darüber denken als ich? Die Ärzte wissen schon, was sie tun. Und sie werden für mich das Beste einrichten. Oftmals überblickten die älteren Leute gar nicht die gesamte Sachlage. Sie vertrauten auf „ihren Arzt“ und dass dieser alles richtig machte. Wieso sollten sie dann eine Patientenverfügung erstellen? Es fehlte also oft an der Aufklärung. Damals, als diese Menschen jung waren, gab es viele der heutigen Möglichkeiten in der Medizin noch gar nicht. Und wieso sollten die jetzt schlecht sein, diese neuen, fast unbegrenzten Möglichkeiten? Vielen dieser Menschen waren bis heute die Tragweite, die Vor- und insbesondere die Nachteile dieser Entwicklungen nicht bewusst. Und außerdem müssen ihre Verwandten doch wissen, was sie wollten! Das führte nicht selten zu diffizilen Folgeproblemen und Unsicherheiten bis hin zu belastenden, quälenden Fragen und Entscheidungen der nahen Angehörigen.

      Herr Häußler sprach aber weiter: „Trotzdem, dass sie nie „so“ sterben wollte, das hat sie gesagt. Sogar sehr oft. Einmal, da hat sie von ihrer Nachbarin erzählt - das war, als sie Zuhause noch alles allein machen konnte. Die war schon 80 als sie stürzte und sich das Bein brach. Im Kopf war sie damals schon nicht mehr so richtig klar. Und dann kam eins zum anderen. Im Krankenhaus liegen, Lungenentzündung, schwere Demenz, Pflegeheim, bettlägerig, immer wieder Lungenentzündungen oder andere Krankheiten. Das ging über ein Jahr so. Sie wurde dann wohl auch künstlich ernährt. Und mitgekriegt hat sie sowieso nichts mehr. Auf jeden Fall hat Mutter damals gesagt, so wolle sie nie enden. Ich konnte mir das auch nicht vorstellen: meine damals noch so fitte Mutter an Schläuchen, unansprechbar, ans Bett gefesselt. Und dann … tja … dann ist es doch so gekommen. Ich hätte viel eher einschreiten sollen. Was dagegen machen! Aber meine Schwester Lettie war da ein bisschen vorsichtiger. Wissen Sie, sie hing noch mehr an unserer Mutter. Sie gab die Hoffnung nie auf. Irgendwie, glaube ich, hat sie immer wieder auf ein Wunder gehofft. Aber was soll da schon passieren? Haben Sie schon einmal von einem dementen Menschen gehört, der wieder klar denken konnte?“ Thela schüttelte den Kopf. Auch Frau Häußler wackelte leicht mit dem Kopf. Ob aus Verwunderung über die Erzählungen ihres Mannes von seiner Schwester oder weil sie noch nie eine Gesundung eines Demenzkranken erlebt hatte, konnte Thela nicht feststellen.

      „Naja, so habe ich das Thema nach einigen Versuchen einfach fallen gelassen. Ich konnte es Lettie nicht antun. Jedes Mal, wenn das Gespräch an diesen Punkt kam, brach sie in Tränen aus. Das ist nichts für mich. Und jetzt hatte uns ein Bekannter darauf gebracht, wir sollten doch mal abklopfen, ob da rechtlich nicht was zu machen sei. Wegen der Sonde und so…“ Thela

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