Brücken bauen. Mauern einreißen.. epubli GmbH

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Auf einmal öffnete sich die Tür und ein Volkspolizist fragte mich, ob ich einen Tee trinken oder etwas essen wolle. Ich muss ihn angesehen haben, als komme er aus einem anderen Sonnensystem. Ehrlich gesagt, konnte ich die plötzliche Fürsorge nicht wirklich verstehen. Oder hatte dieses Verhalten mit unserem Freikauf zu tun? Wollten die, die uns bis gestern noch durch den Tagebau getrieben hatten, auf einmal bessere Menschen sein?

      Das brauchten die uns nun wirklich nicht vorzumachen, denn daran glaubte wohl niemand von uns. Hätte er die Tür aufgerissen und mir wortlos eine Plastiktasse mit sehr dünnem Pfefferminztee vorgesetzt, dann hätte ich das als völlig normal empfunden. Als er mich aber nach meinem Wunsch nach etwas zu Essen oder zu Trinken fragte, war ich doch sehr erstaunt. Natürlich wollte ich etwas trinken, auch wenn es nur dieser dünne Pfefferminztee war. Ich hatte seit dem Morgen nichts getrunken. Doch auch hier sollte ich mich irren: Das war kein dünner Pfefferminztee, sondern ein richtig gut schmeckender schwarzer Tee. Jedenfalls für diese Verhältnisse. Wollte man uns langsam wieder an normale menschliche Kost und Getränke gewöhnen, so dass wir nicht völlig abgemagert aussahen?

      Wir kamen mitten in der Nacht auf dem Bahnhof in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) an. Dann ging es ein Stück durch den Bahnhof und wieder hinein in den Barkas mit seinen winzigen Zellen. Der Barkas musste schon eine Weile dort gestanden haben, denn die Zellen waren eiskalt. Egal, gar nicht erst lange darüber nachdenken, sondern hinsetzen, so gut das in dieser winzigen Zelle eben ging, und dann ging die Fahrt auch schon los. Der Barkas B-1000 hatte keinerlei Aufschrift an den Seiten. Dieses Mal war alles anders als sonst.

      Auf der relativ kurzen Fahrt hatten entweder nicht so viele Ampeln gestanden oder sie waren alle grün gewesen, denn wir hatten kaum irgendwo angehalten, und wenn, dann immer nur für wenige Sekunden. Das Fahrzeug stoppte, der Motor wurde abgestellt und das dumpfe Geräusch von Rollen, die ein schweres Tor bewegten, war zu hören. Nach wenigen Metern öffnete sich die Tür. Draußen standen die Volkspolizisten des Strafvollzugs in ihren dunkelblauen Uniformen mit den grau umrandeten Schulterklappen. Die Dienstgrade hatten wir im Strafvollzug lernen müssen, da wir die Volkspolizisten mit Herr und Dienstgrad anzusprechen hatten.

      Wenigstens etwas, dachte ich. Nicht wieder in diesem Stasigefängnis zu sein, war ein Grund, einmal tief durchzuatmen. Auch wenn die Luft hier gesiebt war, so war es doch anders als sonst, denn wir bekamen unsere privaten Sachen wieder: genau die Uniform des Triebfahrzeugführers der Berliner S-Bahn, die ich damals bei meiner Verhaftung durch die Stasi getragen hatte. Die Uniform schien mir in der Zeit der Haft viel zu groß geworden zu sein.

      Es wäre zu schön gewesen, hier anzukommen und nur fünf Minuten auf den so lange ersehnten Transport zur Mauer zu warten, um dann, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, in die Freiheit zu laufen. Aber bis dahin sollte es noch eine Weile dauern.

      Ich kam in eine Zelle. Nach wenigen Augenblicken kam ein schlanker Herr im schicken Anzug herein und teilte mir mit, dass er mein Rechtsanwalt sei und nun alle notwendigen Formalitäten für meine »dauerhafte Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland«, wie die Ausreise offiziell hieß, mit mir erledigen wolle.

      Meine ersten Gedanken galten allen meinen Gegenständen in der Wohnung, in der ich zum Zeitpunkt meiner Verhaftung gewohnt hatte. Für mich waren insbesondere die Fotos, die Schallplatten und Bücher sehr wichtig. Als ich das dem Herrn Rechtsanwalt mitteilte, sagte er mir, dass es ihm sehr leid tue, aber all diese Sachen gäbe es nicht mehr.

      Das war ein Tiefschlag für mich. Doch wie hatte ich auch nur glauben können, dass all meine so lieb gewonnen Schallplatten noch da waren? Und all die Bilder von den schönen, glücklichen, aber auch traurigen Momenten meiner Beziehung? All meine bildlichen Erinnerungen an meine erste große Liebe, all die Liebesbriefe, die wir uns seit wir das Schreiben erlernt hatten geschrieben hatten, waren abhandengekommen.

      Auf dem einzigen Bild, das ich noch von meiner lieben Freundin in meinem Kopf hatte, war sie über und über mit Blut verschmiert und mit ihren zerrissenen Sachen zu sehen. Wann würde ich dieses Bild aus meinem Kopf bekommen? Was hatte dieser Staat aus mir gemacht? Sollte dieser Staat auf der Zielgeraden doch noch das Rennen gegen mich gewinnen? Hatte ich schon oder war ich nun endgültig verloren?

      NEIN! Wo waren meine Kraft, mein Mut, meine innere Stärke? Die konnte die Stasi mir nicht genommen haben.

      NEIN, ICH WILL LEBEN, ICH WILL LEBEN!

      Ich wollte LEBEN und das Leben – vielleicht ja schon in naher Zukunft – auch wirklich leben, es in Freiheit genießen können. Das war es, was mich in diesen Tagen, die oft schwer waren, nicht verzweifeln ließ. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles weitergehen sollte. Würde ich meine Familie, meine Freundin, meine Freunde jemals wiedersehen? Ich wusste nur, dass ich unter keinen Umständen in meinem Leben je wieder in die DDR zurückkehren würde. Dazu hatte ich hier viel zu viel Schmerzliches erlitten. Mit meinen Freunden konnte ich mich auch in der Tschechoslowakei oder in Ungarn treffen, obgleich mir das nicht viel sicherer erschien. Wie weit würde die Stasi im Zweifelsfall reichen? Oder andersherum: Wie weit an die DDR konnte ich mich ungefährdet heranwagen? Wann und wie würde ich alle wiedersehen?

      Die Stunden vergingen hier manchmal so schnell, dass ich beim Zählen der Tage durcheinanderkam. Dann verging die Zeit wieder so langsam, dass ich mich darüber erschrak, dass wir immer noch das gleiche Datum hatten. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr als Gefangene fühlten. Jetzt, da wir wussten, dass die Freiheit nahte. Dennoch belasteten uns viele Fragen.

      Wenn unser Freikauf abgeschlossen war, konnten wir in Freiheit leben, arbeiten und denken, wie aber ging es all denen, die nicht das Glück hatten, durch diesen Freikauf in den Westen zu gelangen? Wie lange würde man all diejenigen noch völlig willkürlich gefangen halten? Wie viel Leid und Schmerz hatten all die vielen anderen Häftlinge, die nur eingesperrt waren, weil sie in Freiheit leben wollten, noch auszuhalten? Werden wir unsere Freunde irgendwann wiedersehen? Können wir dann tatsächlich in Freiheit leben oder reicht der Arm der Stasi auch noch bis in den Westen? Wie wird das Leben dort weitergehen? Schließlich ist das Leben in Deutschland ein ganz anderes als das, das wir aus dem Unrechtssystem in der DDR kennen. Diese Fragen ließen mich immer wieder sehr nachdenklich werden. Eines aber war sicher: Ich wollte weg. Raus aus diesem Staat, der seine Bewohner einsperren muss, um sie am Gehen zu hindern.

      Wir mussten alle einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen und unterschreiben, dass wir während der Haftzeit niemals physisch oder psychisch misshandelt worden waren. Diese Unterschrift mussten wir noch während der letzten Tagen der Haft leisten. Wir wurden auch darüber belehrt, dass wir mit keinem Wort erzählen durften, was wir während der Haftzeit gesehen und/oder erlebt hatten. Falls wir uns nicht daran hielten, würden nicht nur wir selbst, sondern auch gleich die ganze Familie verhaftet werden.

      Es nahte der Tag der Tage, wie wir sagten. Schon am Morgen sollten wir all unsere Sachen zusammenpacken. Alles, was dem Knast gehörte, gaben wir ab, zum Beispiel die Bettwäsche, das Besteck mitsamt der Bestecktasche, die Tasse, den Teller oder Dinge für die tägliche Hygiene. Die Stunden, die uns hier noch verblieben, vergingen so zäh und so langsam, als wären es Monate oder sogar Jahre.

      Der Obermeister, der uns schließlich zum Bus begleitete, war nur noch das Abbild eines Menschen. Den versteinerten Blick und die eiskalte Sprache werde ich wohl nicht mehr vergessen. Als ich an der Reihe war und gefragt wurde, ob ich die DDR wirklich verlassen wolle, hätte ich beinahe angefangen zu lachen. »Natürlich will ich die DDR verlassen«, sagte ich. Dann lief ich los.

      Die fünf, vielleicht sechs Meter ging ich sehr langsam, denn ich wollte diese Minuten spüren, ich wollte sie fühlen, riechen, sehen, ich wollte am liebsten die Zeit in Slow Motion erleben. Da stand er: der Bus. Für viele andere wäre es ein ganz normaler Bus vom Typ Mercedes gewesen. Für mich und für die anderen elf war er alles, aber kein normaler Bus. Schon auf den Stufen, die in das Fahrzeug

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