Verloren. Josef Rack
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Vorne, auf ihrer Seite in Buda, sieht man die Fischer-Bastei, das Burgviertel, das imposante Schloss und weiter vorne dann noch die Zitadelle. Man sagt nicht umsonst, dass Budapest eine der schönsten Städte der Welt ist.
Sie ist froh, dass sich Toni so sehr für seine Umgebung interessiert.
Er wächst zweisprachig auf - ungarisch und russisch. Seine deutsche Sprache vergisst er langsam.
Von der Schule bringt er gute bis sehr gute Noten mit nach Hause, wobei Musik mit zu seinen Lieblingsfächern gehört.
Darauf sind Olga und Andrej besonders stolz.
Andrej hat seinen Dienst in der Armee quittiert und findet in der russischen Stadtkommandantur als Zivilist eine Stellung. Seine Dienststelle liegt auf der anderen Seite der Donau. So fahren Olga und Toni öfter hinüber, erledigen etwas oder bummeln auch nur. Abends fahren sie dann mit Andrej zusammen heim.
Viele wichtige Ämter werden von Russen geleitet bzw. stehen unter russischer Verwaltung. Von der zivilen Bevölkerung erhalten nur diejenigen eine wichtige Anstellung, die sich zum sozialistischen System bekennen. Dies betrifft auch die Schulen. Die Lehrbücher sind schon alle im sozialistischen Sinn verfasst. Die Lehrkräfte müssen natürlich voll hinter der Sache stehen. Und so bleibt es nicht aus, dass manche Lehrkraft ersetzt wird.
Die dritte Klasse, in die Toni jetzt geht, betrifft dies auch.
Eines Tages erscheint die Rektorin mit einer neuen Lehrerin mit strengem Blick, Haarnest und Bekleidung im Militärstil.
„Aufstehen!“
Kurze Begrüßung: „… und dies ist eure neue Lehrerin, die euch im Sinne von unseren hochverehrten Genossen Marx und Lenin erziehen wird. Jeden Morgen zum Schulbeginn wird die ‚Internationale’ gesungen.“ Allgemeines Murmeln unter den Schülern.
„Ruhe! – wer den Unterricht stört, wird bestraft!“
Abgang der Rektorin.
Jetzt hat auch hier die neue Zeit begonnen.
Sie bekommen eine neue Schuluniform. Die Buben sehen aus wie kleine Soldaten. Die Mädchenkleidung ist auch so geschnitten, dass das Mädchenhafte dahinter fast verborgen bleibt. Alle sollen gleich aussehen und so ist es auch. Das Lachen wird seltener. Wenn ihre Lehrerin oder auch andere Lehrer auf dem Schulhof oder auf dem Gang auftauchen, verstummt die Unterhaltung. Ein unbefangenes Herumtollen auf dem Schulhof findet kaum mehr statt.
Alles wird organisiert.
Spiele finden nur nach festen Spielregen statt.
Was es mehr gibt, sind Auszeichnungen für gute Leistungen. Wobei nicht immer diejenige eine Belobigung erhalten, dessen Leistung über der der anderen liegen.
Es bilden sich zwei Gruppen. Die einen verstehen sich sehr gut mit der Lehrerin, sind immer bemüht, ihren Anforderungen zu entsprechen und ihr Soll bestens zu erfüllen. Die bekommen auch die meisten Belobigungen und Auszeichnungen. Die anderen gehen leer aus. Die Leistung leidet darunter, weil ja die Motivation fehlt.
Zu jedem Quartalsende oder vor anstehenden Ferien - und im ganz großen Stil zum Klassenjahres-Schluss - werden auf dem Schulhof regelrechte Paraden abgehalten. Alle müssen in Festuniform in Reih und Glied Parade stehen.
Vorne ist ein Podest aufgebaut.
Von der Partei erscheint extra ein Funktionär, seine stolze Brust vollgehängt mit Verdienstorden. Zuerst wird die „Internationale“ gesungen. Ansprache des Funktionärs. Meldungen an ihn. Dann der große Moment: Die zu Ehrenden werden einzeln nach vorn gerufen. Von dem Funktionär höchstpersönlich erhält das Kind eine Urkunde und ein Abzeichen wird an sein Oberteil gesteckt. Im Anschluss werden nacheinander die verschiedenen Lehrer der jeweiligen Klassen aufgerufen und, je nachdem wie viele Auszeichnungen es für ihre Klasse gibt, auch ausgezeichnet.
Kapitel 5
Toni ist zum Glück immer noch mit Attila zusammen.
Eine unzertrennbare Freundschaft verbindet sie, obwohl Attila ein ganz anderes Gemüt als Toni hat. Attila ist hitzköpfig und kann sich sehr schwer in das neue System einfügen. Ihm geht das Getue total gegen den Strich. Schon morgens, wenn es losgeht mit der „Blödennationale“, wie er zu sagen pflegt, stehen ihm die Haare zu Berge. Toni ermahnt ihn oft: „Reiß dich zusammen.“
Attila singt oft nicht mit oder verunstaltet den Text. Toni boxt ihn dann in die Rippen oder tritt ihm auf den Fuß. Einmal schreit Attila auf: „Autsch“. Die Lehrerin eilt wie eine Furie auf die beiden zu, ergreift unterwegs den Stock und schlägt auf sie ein. Strafarbeit, Meldung bei der Rektorin, Eintrag ins „Schwarze Buch“. Bei Wiederholung: Streichung eines Aus-flugs oder sonstiges.
Attila registriert, wie ein anderer Schüler schadenfroh grinst als sie Schläge bekommen. Auf dem Heimweg schmiedet Attila Pläne, wie er es dem schadenfrohen Schulkamerad heimzahlen kann.
Toni besorgt: „Attila sei so gut und mach dich nicht unglücklich, du weißt, der ist der Liebling der Lehrerin.“ Attila lässt sich aber nicht beirren.
In ihrer Freizeit treffen sie sich, so oft es geht.
Toni bleibt seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Musizieren, treu. Attila treibt Sport. Er braucht etwas zur Körperer-tüchtigung, seine Muskeln verlangen danach. Und trotzdem, obwohl sich ihre Interessen unterscheiden, verstehen sie sich sehr gut. Sie ergänzen sich praktisch.
Hat Attila eine Unsicherheit in einem Lernfach, kann er sich auf Toni verlassen. Andererseits steht Attila Toni bei, wenn er einmal von einem Mitschüler in die Zange genommen wird. Vor Attila haben sie Respekt.
Wenn sie schulfrei haben, halten sie sich oft an ihrem Lieblingsplatz auf: einem kleinen Wäldchen, ganz in ihrer Nähe. Am Waldrand haben sie ein Baumhaus errichtet, in dem sie oft sitzen. Von hier aus kann man die ganze Gegend unterhalb beobachten. Der Blick reicht über alle Häuser bis hinüber nach Pest.
Viele Jungs in ihrem Alter haben sich zu Banden zusammengeschlossen. Diese Gruppierungen bestehen oft nicht nur aus harmlosen Lausbubenvereinigungen. Sie werden von politisch angehauchten Anführern geleitet, sogenannten Jungpionier-Vereinigungen, die mit Militärliedern und –spielen beeindrucken. Mit all dem wollen Toni und Attila nichts zu tun haben. Da sind sie sich einig. Gegen die werden sie sich auch verteidigen.
Zu diesem Zweck haben sie auch vorgesorgt und dazu in ihrem Baumhaus allerhand Abwehrwaffen angehäuft. So z. B. Sand, der auf die Angreifer hinuntergeschüttet werden kann, ebenso Steine, Pfeil und Bogen, Speere, Schleudern. Auch steht immer ein Kübel mit Exkrementen parat. Was noch nebenbei den Vorteil hat, dass sie den Baum nicht verlassen müssen, ihr „Geschäft“ können sie praktischerweise gleich hier oben erledigen. Wehe, hier will jemand angreifen…
Sie merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Die Beine baumeln hinunter. Die Stadt liegt im Abenddunst. Kaum dringt ein Laut an ihr Ohr, von der Stadt hört man sowieso nichts. Ab und zu fährt schon ein Auto mit Licht. Auf der Donau kommt ein schwer beladenes Schiff aufwärts gefahren, silberglänzende V-förmige Wellen hinterlassend. Alles sieht friedlich aus.
Und doch – große Veränderungen