Zwielicht 11. Michael Schmidt

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Zwielicht 11 - Michael Schmidt

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      Sie rannte los, rannte davon. Zurück zu den Fensterscheiben und zu der Welt, die dort draußen auf sie wartete.

      Sie flog dagegen, sprang hoch. Ihre Hände quietschten, als sie an dem Glas hinunterrutschten. Sie perlte ab, hinterließ keinen Effekt. Das Glas gab nicht nach. Hektisch griff sie sich die Spiegelscherbe und zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie das scharfe Glas ansetzte und in ihre Haut schnitt. Durch das Adrenalin, das durch ihre Adern rauschte, spürte sie den Schmerz kaum. Sie benetzte ihre Finger mit ihrem eigenen Blut und begann dann, von innen an das Glas zu schreiben. Spiegelverkehrt. Erst das H, ganz rechts. Dann das I. Sie brauchte mehr Blut, mehr. Verschwommen dahinter sah sie ihr eigenes Gesicht, ihre riesigen panischen Augen, die aschfahle Haut. Die eingefallenen Wangen und die mit Haut überzogene Delle, die einst ihr Mund gewesen war. Strähnig klebte ihr das Haar in der Stirn.

      Da – bewegte sich etwas hinter ihr in den Schatten? Sie drehte sich nicht um. Sie wollte, sie durfte es nicht wissen. Sie schrieb weiter. Wieder liefen die Tränen über ihre Wangen.

      Als sie mit dem ‚L’ fertig war, richtete sich ihr Blick für einen Moment auf die Welt vor den gläsernen Fenstern. Jetzt erst nahm sie die Frau wahr, die einige Meter entfernt im nieselnden Regen stand. Sie trug einen grauen Mantel, hatte dunkelbraunes Haar und Sandra den Rücken zugewandt. Ihr Blick galt dem Hund, der neben ihr stand. Sofort begann Sandra wieder, gegen die Scheiben zu hämmern. Doch es war nicht genug. Nichts war genug. Sie wünschte so sehr, sie könnte schreien. Trotzdem – die Frau wurde auf sie aufmerksam. Langsam drehte sie sich um, noch ein Stück, noch ein Stück … Sandra taumelte rückwärts. Kein Gesicht! Die Frau besaß kein Gesicht! Und dennoch hatte Sandra das Gefühl, als würde sie sie anstarren. Direkt in ihr Innerstes hinein. Dann machte sie einen Schritt auf Sandra zu. Weinend wich diese zurück. Doch wohin? Hinter ihr lauerte ihr Tod, das hatte das Video ihr gesagt. Was sollte sie nun tun? Warum half ihr niemand?

      Die Fliegen. Das Summen nahm zu. Dicht an ihrem Ohr. Wieder das Kribbeln auf ihrer Haut. Hilfe suchend blickte sie zurück zu den Fernsehern, die jetzt ein verwackeltes Bild zeigten. Ein Zimmer, das sie nicht kannte. Stand dort jemand? Tatsächlich, etwas bewegte sich. Es sah weiß aus, knochig. Ein Arm, eine Schulter? Dann verschwand es.

      Plötzlich ein Knallen rechts von ihr. Sandra sah, wie die Frau gegen die Scheibe lief, wieder und wieder. Ihr Körper glich dem einer leblosen Puppe. Ihre Arme zuckten unkontrolliert durch die Luft. Der Hund stand reglos neben ihr, bellte bloß. Der Fokus seiner großen, schwarzen Augen rückte keine Sekunde von Sandra ab, sein Speichel flog gegen die Scheiben.

      „Sandra.“ Keine menschliche Stimme, es glich nichts, das sie jemals gehört hatte. Sie kam aus den Lautsprechern. Wieder sah Sandra zu den Fernsehern. Das Bild hatte sich verändert. Etwas streckte sich ihr entgegen. Erst nach einigen Sekunden begriff sie, dass es eine Hand war. Knochig, weiß und deformiert. Verkrampfte, klumpige Finger und lange, graue Nägel.

      „Du hättest es mir einfach zurückgeben müssen.“ Die Hand bewegte sich leicht. Dann beugte das Wesen sich hinab und sah in die Kamera. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah sie das Gesicht. Die Fratze. Langgezogen und weiß, nur Schlitze als Nasenlöcher. Schwarze Augenhöhlen. Und wo der Mund sein sollte ein großes, schwarzes Loch. Es brannte sich auf ihrer Netzhaut ein. Denn es blieb das letzte, das sie sah. Alles wurde dunkel.

      Fahrig glitten ihre Hände über ihr Gesicht. Sie wusste bereits, was ihre zitternden Hände ihr bestätigten: Ihr Gesicht, alles was sie ausmachte – verschwunden. Sie fühlte nur glatte Haut, keine Augen, keine Wimpern. Jemand hatte sie eingesperrt! Eingesperrt in ein fensterloses Gefängnis ohne Licht. Eingesperrt in ihren eigenen, nutzlosen Körper.

      Dann spürte sie die Hände. Eiskalt. Klumpige, unförmige Hände, die sie packten und über den Boden zerrten. Sie konnte nicht schreien. Ewige Stille. Ewige Dunkelheit.

      Sandra wehrte sich nicht. Sie trat nicht um sich, sie blieb ganz still. Die Dunkelheit bot ihr eine Höhle, in die sie sich zurückziehen konnte. Der Schmerz drang nicht mehr zu ihr durch. Als das Wesen begann, sie am Boden festzunageln, dehnte die Dunkelheit in ihrem Kopf sich aus und verdrängte alles andere.

      Erst als sie spürte, wie das warme Amulett um ihren Hals gelegt wurde und wie es sich fast vertraut an ihre Haut schmiegte, erwachte sie ein letztes Mal in ihrem Gefängnis. Langsam zog die Schlinge sich zu. Ganz in der Ferne schossen Blitze des Schmerzes durch ihren Kopf, als das Metall sich tief in ihr Fleisch brannte. Da hatte sie am Ende also doch kein Glück gehabt. Und der letzte Gedanke, den Sandra S. in ihrem viel zu kurzen Leben dachte, war: „Hätte doch nur Meike die Kinotickets nicht weggeworfen …“

      Josef liebte es rohes Fleisch mit dem Beil zu spalten.

      Er arbeitete nachts im lokalen Schlachthof, der im Schein der Flutlichter wie eine Raumstation aussah. Die Scheinwerfer der anliefernden LKWs erinnerten an Raumfähren. Sie fuhren rückwärts an die von gelben Rolltoren abgeschlossenen Schleusentore, um anzudocken. Sodann klingelte es im Schlachthof und ein rotes Licht leuchtete über dem betreffenden Rolltor auf. Dann trotteten die Metzger in ihrer weißen Kälteschutzkleidung über die Gangway wie Astronauten in ihren Raumanzügen und holten die Schweine- und Rinderhälften aus den gekühlten Transportern. Manchmal bekamen sie auch exklusivere Fleischsorten.

      Josef liebte es in der Nacht zu arbeiten. Er war Junggeselle ohne Verpflichtungen und zudem eigenbrötlerisch. Die Nachtschicht nutzte er, um für sich allein zu sein. In der Regel teilte er seine Schicht mit einer knappen Handvoll Kollegen. Sie gingen ihm aus dem Weg, da sie sein ständiges Gerede von „Überfremdung“ und „Ausländerschwemme“ lange schon satthatten. „Die wollen doch nur von unserem Sozialstaat schmarotzen! Lassen ihr Land im Krieg allein! Wir haben unseres wieder aufgebaut! Wir sind nicht geflohen damals! Nach 1945, nach dem Österreicher!“

      Als es um vier Uhr klingelte und das rote Licht leuchtete, war Josef mitten in der Bewegung. Von oben ließ er das scharfe Beil herabfallen und zerteilte das vor ihm aufgespannte und bereits ausgeweidete Schwein in zwei Hälften. Er sah auf das Rotlicht.

      „Warum denn ausgerechnet jetzt?“, murrte er und erhob sich mit einem Ächzen. In letzter Zeit klagte er über Rückenbeschwerden, unter Metzgern ein häufiges Leiden. Dann schlurfte er hinüber zum Rolltor, betätigte den Schalter. Das Tor knatterte nach oben und schob sich in das freischwebende Schienensystem, sodass die Lamellen parallel über dem blutbedeckten Boden in der Schwebe gehalten wurden.

      Hinter der kurzen Gangway stand der LKW. Die Ladeklappe war noch geschlossen. Feine Schwaden kalter Luft kräuselten sich ringsum in die Nachtluft empor. Die Fahrertür öffnete sich. Ein dunkelhäutiger Mann mit Vollbart stieg aus.

      „Hey, Salvadore! Du bist es schon wieder!“, rief Josef. „Was hast du denn diesmal dabei?“

      „Ah, Josef! Schön, dich zu sehen! Habe nur Rinder und Schweine dabei.“

      „Okay. Ich lade mal ab.“

      Josef drehte sich nach hinten und zog die Unterlippe über die Zähne. Ein schriller Pfiff kam aus seinem Mund. Zwei weitere Metzger tauchten aus den Tiefen des Schlachthofs auf. Salvatore ließ die Klappe des Anhängers herabfahren. Ein Plastiktor verhinderte, dass die Kühle des Innenraums entwich. Der LKW-Fahrer zog an einer Schnur, sodass sich das Tor nach oben schob.

      Dicke Wolken drangen heraus. Die Metzger schritten hinein in den Nebel, warfen sich die Schweinehälften über die Schulter und trugen sie hinein hinter die transparenten Lamellenvorhänge des Schlachthofs.

      Als der LKW fast leer war, betrat

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