Ein Ort in Italien. Emmi Ruprecht
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Читать онлайн книгу Ein Ort in Italien - Emmi Ruprecht страница 3
Matthias ist überrascht: So hat er sich Elli nicht vorgestellt! In seiner Fantasie musste eine Frau, die alleine nach Italien in ein Musik-Camp fährt, etwas „Alternatives“ an sich haben: lange, ungepflegte Haare, nachlässig gekleidet mit Textilien in Knitter- oder Ausbeul-Optik, mindestens ein bisschen mollig und vor allem mit bequemen Sandalen oder Gesundheitsschuhen an den Füßen. Diese Frau, die aus dem alten japanischen Wagen steigt, ist das genaue Gegenteil: Groß, schlank, mit einer gut geschnittenen dunkelbraunen Pagenfrisur zu blauen Augen und sinnlich geschwungenen Lippen. Ihre langen Beine stecken in engen schwarzen Jeans und an ihren Füßen hat sie schmale schwarze Stiefel. Sie trägt eine kurzärmelige hellrote Bluse, die ihr sehr gut steht. Nein, bei dieser Erscheinung hätte er als Urlaubsziel vielleicht Rom, Florenz oder Mailand erwartet, aber nicht die Hügel der italienischen Pampa vermutet.
Lächelnd kommt die hübsche Frau auf ihn zu.
„Hi, ich bin Elli!“
„Tach, Matthias“, antwortet er.
„Kriegst du deine Sachen hier unter?“
Einladend öffnet sie die Tür hinter dem Beifahrersitz.
Sie scheint ganz freundlich zu sein, denkt er und ist erleichtert. Zwar musste er in seiner beruflichen Laufbahn schon mit den unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Orten klarkommen. Auch hat er besonders gegenüber dem weiblichen Geschlecht selten Probleme, sich unbefangen zu geben. Aber eine lange Fahrt an der Seite von jemandem, den man absolut nicht riechen kann, kann sich dennoch hinziehen.
Er wirft seine Sachen auf die Rückbank und steigt ein. Den Beifahrersitz schiebt er bis zum Anschlag nach hinten, um seine langen Beine unter dem Handschuhfach unterzubringen, dem sie dabei gefährlich nahe kommen.
„Ich hoffe, der Platz reicht aus?“, fragt Elli besorgt, als sie ihn beobachtet.
„Na klar doch!“, antwortet er und grinst sie zuversichtlich an.
„Na dann …“, sagt Elli und lässt den Motor an. Kurze Zeit später sind sie wieder auf der Autobahn.
Die beiden Italien-Reisenden finden schnell Gesprächsstoff. Sobald Elli sich in den Autobahnverkehr eingeordnet hat, kommen sie ins Plaudern und haben sich in kürzester Zeit darüber verständigt, dass sie beide noch nicht an diesem Ort in Italien gewesen sind, wo sie weitab von der nächsten größeren Stadt eine Woche lang Gitarre spielen und singen werden. Sie erzählen sich gegenseitig von ihren Erwartungen und malen sich den Ort das eine Mal in den schönsten Farben als Kleinod italienischer Lebensart aus, das andere Mal befürchten sie eine deprimierend heruntergekommene, baufällige Ruine am Hintern der Welt, mit feuchten Wänden und pappigen Spaghetti zum Abendessen. Schnell geraten sie ins Schwärmen, dann wieder schütteln sie sich angewidert – je nachdem, in welche Richtung ihre Fantasie sie treibt. Und als nach einiger Zeit, die wie im Fluge zu vergehen scheint, am Horizont die Alpen auftauchen, ist bei beiden die Vorfreude auf den Urlaub schon erheblich gewachsen und die Anspannung gewichen.
Matthias beginnt aus seinem Leben zu erzählen. Ein bisschen möchte er Elli auch damit beeindrucken, dass sein Job als Koch ihn in der Vergangenheit quer durch Deutschland in die verschiedensten Restaurants geführt hat und er zum Schluss sogar auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert hat. Leider, so berichtet er, ist dabei sein Gitarrenspiel reichlich zu kurz gekommen. Nun wolle er sich eine Woche lang den Luxus gönnen, intensiv wieder einzusteigen ins Sliden, Tappen und Picken, und ein paar neue Powerchords möchte er auch gerne lernen.
„Außerdem brauche ich wohl einfach eine Auszeit“, ergänzt Matthias und seine Stimme nimmt einen resignierten Klang an.
Elli schaut zu ihm hinüber. Das hört sich traurig an. Vielleicht Probleme im Job? Oder eine enttäuschte Liebe? Soll sie nachfragen, weshalb Matthias eine Auszeit nehmen will? Erwartet er das vielleicht? Oder ärgert er sich womöglich schon darüber, zu viel gesagt zu haben?
Doch bevor Elli sich noch darüber klar werden kann, ob ein Nachfragen unangemessen vertraulich erscheinen würde, senkt Matthias den Kopf und lässt seine Schultern noch weiter hängen, als sie es ohnehin schon tun.
„Ja, das war nicht leicht für mich, das letzte Jahr“, seufzt er und schaut aus dem Beifahrerfenster, wie um seine Emotionen zu verbergen. Nach einer kleinen Pause fährt er fort: „Fast wäre ich Papa geworden. Aber meine Freundin hat das Kind nicht bekommen wollen.“
Dann sagt er eine Weile lang nichts. Elli schweigt betroffen. Das hört sich furchtbar tragisch an!
„Ich wäre gerne Papa geworden“, ergänzt der junge Mann nach einem weiteren Moment der Stille traurig.
Elli schluckt. Sie weiß nicht, wie sie auf seine Worte reagieren soll. Das Gespräch ist jetzt sehr plötzlich sehr ernst geworden und ihr fällt keine angemessene Erwiderung ein. Was sagt man jemandem in so einer Situation? Es scheint Matthias sehr mitgenommen zu haben, dass seine Freundin ihr gemeinsames Kind abgetrieben hat. Aber „Herzliches Beileid“ ist vermutlich nicht passend?
„Das tut mir leid“, entscheidet sie sich nach einer Weile für eine neutrale Formulierung. Unsicher schaut sie zu ihm hinüber.
Oh je! Sie ist jetzt gar nicht darauf vorbereitet, mit irgendwelchen Schicksalsschlägen anderer Menschen umzugehen. Matthias tut ihr leid, wie er so traurig aus dem Fenster starrt. Doch was soll sie jetzt machen? Was kann man jemandem Tröstliches in so einer Situation sagen? Oder soll sie einfach nur schweigen?
Matthias nimmt ihr glücklicherweise die Entscheidung darüber ab, wie das Gespräch weitergehen soll. Er wirkt ganz dankbar dafür, jemanden zum Reden gefunden zu haben und sein Herz ausschütten zu können. Ellis Schweigen scheint er als Einladung dafür zu verstehen.
„Weißt du – ich bin ohne Vater groß geworden. Meine Mutter musste richtig hart arbeiten, um genug Geld für uns beide zu verdienen. Eigentlich bin ich mehr bei meiner Oma als bei meiner Mutter aufgewachsen. Sowas wie ein Familienleben kenne ich gar nicht.“
Er schüttelt den Kopf, als wolle er die traurigen Erinnerungen an die entbehrungsreichen Zeiten seiner Kindheit vertreiben, die vor seinem inneren Auge auftauchen.
„Mein Erzeuger hat sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht. Doch nun hätte ich selbst ein Vater sein können.“
Noch einmal seufzt er schwer und scheint den Tränen nahe zu sein.
Elli hält den Atem an. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit – wie so oft, wenn sie unvermittelt zur Rettungsstation für jemanden wird, der sie ungefragt dazu auserkoren hat. Sie traut sich kaum sich zu rühren oder etwas zu sagen aus Angst, es könnte das Falsche sein. Fieberhaft überlegt sie, was sie tun soll. Einerseits fühlt sie sich dazu verpflichtet, ihren Mitfahrer zu trösten, doch andererseits fühlt sie sich auch ziemlich überfahren von der Situation. Um Himmels Willen – hoffentlich muss sie