Ein Ort in Italien. Emmi Ruprecht
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„Alles Quatsch“, denkt sie resolut und versucht sich zu entspannen. „Ich bin doch nicht für ihn verantwortlich. Ich kenne ihn erst seit einer Stunde! Außerdem würde ich niemals auf die Idee kommen, jemand Wildfremdem eine so persönliche Geschichte wie die einer Abtreibung zu erzählen, um dann auch noch umfangreiche Lebenshilfe zu erwarten!"
Dieser Gedanke erleichtert sie zunächst. Doch gleich darauf droht wieder ihr schlechtes Gewissen die Oberhand zu gewinnen. Wie kann sie nur so herzlos sein? Das ist doch schlimm, was der arme Junge durchmacht! Da muss sie doch Mitleid haben!
Matthias scheint unterdessen von Ellis Unbehagen überhaupt nichts mitzubekommen und redet einfach weiter.
„Aber ich will das Geschehene auch gar nicht nur meiner Exfreundin anlasten“, unterbricht er Ellis inneres Zwiegespräch. „Wir waren beide vermutlich zu jung. Ich habe auch Fehler gemacht. Es ist blöd gelaufen.“
Er macht eine wegwerfende Handbewegung, wie um zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, weiter über die Geschichte zu reden. Trotzdem scheint er sehr betroffen zu sein.
Unwillkürlich denkt Elli, dass es sicher viele Menschen gibt, die sich in weitaus jüngeren Jahren als in Matthias‘ Fall mit einer möglichen Elternschaft auseinandersetzen müssen. Aber vermutlich ist das eine sehr individuelle Sache, ob man sich zu jung fühlt oder nicht? Außerdem hat sie selbst keine Kinder, kann also auch nicht mitreden. Trotzdem fühlt sie sich verpflichtet zu sagen: „Nein, nein, mach‘ dir bloß keine Vorwürfe.“
Unsicher schaut sie zu ihrem Begleiter hinüber. Hat sie jetzt das Richtige gesagt? Oder wird er diese Bemerkung unangemessen finden?
Doch Matthias sieht sie dankbar an: „Danke. Du bist echt klasse! Entschuldige, dass ich dich so mit meinem Schicksal überfallen habe. Es kam gerade über mich. Manchmal erwischt mich die Geschichte voll“, meint er mit einem tapferen Lächeln.
„Na klar, kein Problem“, murmelt Elli erleichtert.
Zumindest scheint ihr Mitfahrer jetzt nicht von ihr zu erwarten, dass sie seine Probleme löst. Trotzdem überlegt sie fieberhaft, wie sie die bedrückende Stimmung wieder entspannen kann, die so plötzlich die Urlaubsfreude vom Anfang vertrieben hat. Außerdem – und bei dem Gedanken kommt sie sich richtig herzlos vor – beginnt gleich der Teil der Reise, auf den sie sich ganz besonders gefreut hat: die Fahrt durch die Alpen! Diesen Reiseabschnitt möchte sie genießen! Das fällt allerdings schwer, wenn neben ihr jemand vor sich hin leidet. Also wäre es gut, die Stimmung zu verbessern. Nur wie?
Nach kurzer Zeit taucht am Straßenrand ein Schild mit einem Hinweis auf eine Raststätte auf, die auch Vignetten für Österreich verkauft.
„Ich denke, die Gelegenheit sollten wir nutzen“, sagt Elli erleichtert in der Hoffnung, damit das Thema wechseln zu können. Sie weist auf das Schild. „Vielleicht holen wir uns auch gleich noch einen Kaffee?“
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Monika
Monika steht in ihrem großzügigen Bad vor dem modernen Waschtisch aus dunklem Holz mit dem weißen Keramikbecken darauf. Sie schaut in den riesigen, mit Mosaiksteinen eingefassten Spiegel dahinter. Gerade eben noch war sie dabei, die letzten Utensilien, die sie für die Reise braucht, in ihr edles Beautycase aus dunkelbraunem Leder zu versenken. Doch dann fiel ihr Blick zufällig in den Spiegel, und nun kann sie sich nicht losreißen von dem Bild, was sich ihr bietet: Eine Frau von fast 50 Jahren mit ausgeprägten Gesichtszügen – „herb“ wie ihre Mutter dazu auf ihre charmant uncharmante Art sagt – schaut ihr entgegen. Ihre aschblonden, von einigen wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haare hat sie streng zu einem praktischen Zopf zurückgebunden. Der Ärger der letzten Monate, den sie fast immer fleißig hinuntergeschluckt hat, zeigt sich in ihrem Gesicht und lässt ihre markanten Gesichtszüge maskenhaft versteinert wirken.
Sie schaut sich an und ist erschrocken über das, was sie sieht. Ist sie das wirklich? Diese verhärmt aussehende Frau mit der steilen Stirnfalte und den missbilligend zusammengezogenen Lippen? Wo sind die Leichtigkeit und die Lebensfreude geblieben, die doch auch einmal da waren? Sie waren doch einmal da? Oder täuscht sie ihre Erinnerung an frühere Jahre? Malt sie die Vergangenheit in zu fröhlichen Farben?
"Ein bisschen vielleicht schon", muss Monika sich eingestehen, denn wirklich einfach war ihr Leben nie. Jedenfalls erinnert sie sich gerade nicht an unbeschwerte Zeiten. Oder ist auch das eine Fehleinschätzung, die von ihrer momentanen Unzufriedenheit herrührt?
Ob sie einfach undankbar ist? Schließlich geht es ihr sehr gut!
Sie betrachtet im Spiegel das moderne, geschmackvolle Ambiente ihres vor anderthalb Jahren renovierten Bades. Die Familie eines Bankdirektors kann sich solche Extras leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen – nicht mal auf die Ein-Zimmer-Eigentumswohnung ihres Sohnes, der seit einem Jahr studiert, oder das Auto ihrer Tochter, welches sie zur bestandenen Führerscheinprüfung bekommen hat. Wobei es „nur“ ein gebrauchter Kleinwagen ist. Aber ein sehr schicker und nicht so ein klappriger Verkehrstod, wie sie ihn sich damals mit zwanzig Jahren mühsam zusammengespart hat.
Was will sie mehr? In ihrem Leben hat sie einiges erreicht: Sie hat zwei wohlgeratene Kinder großgezogen. Sie hat den Aufstieg ihres Mannes gefördert, ihm stets den Rücken frei gehalten, ihn ermutigt und bei gesellschaftlichen Anlässen unterstützt, sodass er seine Karriere gradlinig bis zu seiner jetzigen Position ausbauen konnte. Sie hat derweil das Haus zu einem wahren Schmuckstück ausgestaltet, das gesamte Familienleben perfekt organisiert und nebenbei noch ihren Halbtagsjob in der Stadtverwaltung ordentlich gemeistert. Sie kann stolz auf sich sein. Oder?
Misstrauisch sieht sie in den Spiegel. Stolz sieht sie nicht aus. Eher starr. Leblos. Warum?
Sie muss sich beeilen. In einer Viertelstunde soll das Taxi da sein, das sie zum Flughafen bringt. Was wollte sie noch unbedingt einpacken? Ach ja, das Mückenspray und die Migränetabletten. Die ganz unbedingt! Wenn ihr Urlaubsort in Italien wirklich so weit weg vom Schuss ist, wie es in dem Artikel beschrieben wurde, den sie darüber las, dann würde sie sich nicht einfach Tabletten in der nächsten Apotheke besorgen können und die Woche vermutlich kaum überleben!
Eilig rafft sie ihre Sachen zusammen und trägt sie in das riesige, im Kolonialstil eingerichtete Schlafzimmer mit den bis zum Boden reichenden Fenstern, wo ihre schicke dunkelbraune Lederreisetasche schon fast fertig gepackt auf sie wartet. Mit etwas Gewalt schafft sie es, ihr Beautycase auch noch darin zu versenken. Nur knapp gelingt es ihr, den Reißverschluss zu schließen. Mit Mühe trägt sie das sperrige Gerät durch den Flur und die Treppe hinunter in die großzügige Küche mit der rasend schicken Kochinsel unter einer mächtigen polierten Dunstabzugshaube. Das Ding hat vor vier Jahren ein Vermögen gekostet und der Einbau jede Menge Nerven. Ihre Nerven. Ihr Mann hat kaum bemerkt, dass die Küche komplett erneuert wurde. Dabei war es eine offensichtliche Verbesserung, weil die alte nicht nur seit jeher unpraktisch war, sondern auch ein Gerät nach dem anderen den Geist aufgab.
„Aber wie hätte er die Veränderung auch feststellen sollen? Er hält sich ja kaum in diesem Raum auf", denkt sie ironisch.
Sie stutzt. Moment mal! Ist sie jetzt auch zu einer dieser Frauen geworden, die sie nie sein wollte? Die sich darüber aufregen, dass sich der Mann im Haushalt so wenig einbringt, und die diesen Umstand pausenlos beklagen? Es ist eben so: Ihr Mann verdient das Geld – jedenfalls den Hauptteil des Familieneinkommens. Ein solch luxuriöses Leben, wie sie es führen, ist mit ihrem Gehalt als Verwaltungsangestellte undenkbar. Während Volker, ihr Mann, also die finanzielle Grundlage