Sonnig mit heiteren Abschnitten. V. A. Swamp
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Er fängt jetzt hoffentlich nicht mit diesem Astrologie-Quatsch an, denke ich.
Im Oktober am 31. Am Reformationstag und dazu noch in Eisenach. Hat aber nicht viel gebracht, zu Luther und seiner Kirche habe ich nie Zugang gefunden.
Ich rechne nach. Gezeugt wurde ich vermutlich Ende Januar 1943. Da hatte mein Vater wahrscheinlich Heimaturlaub. Meine Mutter hat mir nie erzählt, warum sie ausgerechnet in diesen Zeiten, wo alles um sie herum in Trümmern fiel, ein Kind haben musste. Ich glaube nicht, dass ich bewusst geplant war. Wahrscheinlich hatten sie kein Präservativ zur Hand und die Pille gab es auch noch nicht. Vielleicht war aber auch der kalte Januar schuld und das Heizmaterial war knapp. Da musste man zwangsläufig mehr Zeit im Bett verbringen. Möglich ist aber auch, dass mein Vater seinen Heimaturlaub nutzte, um meine Mutter einmal richtig durchzuvögeln. Ich weiß es nicht. Denkbar ist auch, dass die beiden sich damals noch liebten. Nach dem Krieg war es definitiv vorbei mit der Liebe.
In Eisenach also, in Thüringen. Ist das der Wohnort Ihrer Eltern?
Nein, meine Eltern kommen aus Wuppertal. Die Stadt mit der Schwebebahn.
Wie kamen Sie mit Ihrer Mutter nach Thüringen?
Sie wurde dorthin als Schwangere evakuiert.
Im Krieg sorgten die Nazis dafür, dass ihre Brut nicht bereits vor ihrem geplanten Einsatz kaputt ging. Ich weiß nicht, ob meine Mutter eine Wahl hatte, als man sie nach Thüringen evakuierte. Evakuieren in kriegsferne Gebiete, das machte man damals so mit Schwangeren und Müttern mit Kleinkindern. Ich glaube auch mit Schulkindern.
Wie lange war Ihre Mutter mit Ihnen in Thüringen?
Mein Gott, warum fragt Strawinsky das? Ist das wirklich wichtig?
Meine Mutter und ich sind bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen dort geblieben. Meine Mutter hat mir öfters erzählt, dass ich das erste Stück Schokolade meines Lebens aus der Hand eines farbigen Amerikaners bekam. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber meine Mutter hat diese Geschichte so oft erzählt, dass wir sie am Ende alle geglaubt haben. Im Mai 45 als sich der Pulverdampf verzogen hatte kehrte meine Mutter jedenfalls mit mir nach Wuppertal zurück.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir erzählt hatte, dass sie sehr glücklich war, ihre Mutter und ihre Großmutter unverletzt anzutreffen.
Und ihr Vater? Hat er den Krieg überstanden?
Von meinem Vater fehlte zunächst jedes Lebenszeichen. Er hatte sich freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet. Er war in Frankreich, Griechenland und zuletzt wohl auch in Italien. Was er da gemacht hat, weiß ich nicht. Über diese Zeit hat er nie geredet. Meine Mutter wusste auch nicht, was er da getrieben hat. Seine ursprünglichen Lebensträume fanden jedenfalls im April 45 ein jähes Ende in einem Gefangenenlager auf den Rheinwiesen. Das war, glaub ich, kein Ponyhof.
Kein Ponyhof ?
Strawinsky hört demnach aufmerksam zu.
Die Geschichte hat er mir irgendwann erzählt. Man hielt ihn und die übrigen Gefangenen auf den mit Stacheldraht umzäunten Rheinwiesen. Da durfte mein Vater in einem offenen Erdloch unter freiem Himmel darüber nachdenken, warum er diesem Verbrecher Hitler gefolgt war. Die meisten Gefangenen wurden krank, viele starben, mein Vater kriegte die Ruhr.
Das war vermutlich eine sehr schwere Zeit für Ihren Vater?
Na klar, aber er fand schnell einen Schuldigen. Er machte immer diesen Hitler für alles verantwortlich und er vergaß tunlich, dass er zu dessen Gefolgsleuten gehört hatte. Nein, ich empfinde kein Mitleid mit seinem Schicksal. Ich denke in russischer Gefangenschaft wäre es ihm viel schlechter ergangen.
Wann kam Ihr Vater nach Hause?
Als Nazi gehörte er zu jener Gruppe Gefangener, die erst im September 45 entlassen wurden.
Wissen Sie, in welchem Zustand er nach Hause kam?
Mein Vater war sehr sportlich und zäh. Er war Leichtathlet und wegen seiner guten Kondition hat er wahrscheinlich das Ganze überhaupt überstanden. Er war natürlich abgemagert, aber die Frauen päppelten ihn wieder auf.
Welche Frauen?
Na ja, meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter. In dem Haus meiner Oma lebten damals drei Generationen, alle mütterlicherseits. Auch seine Eltern haben sich um ihn gekümmert. Dem Mann ging es nicht schlecht. Allerdings war Dankbarkeit nicht seine Stärke. Er kannte nur Selbstmitleid.
Sie waren damals fast ein Jahr alt, als ihr Vater nach Hause kam. Sie werden sich allerdings kaum daran erinnern können?
Natürlich nicht. Aber an eines werde ich mich mein Leben lang erinnern. Ich muss knapp drei Jahre gewesen sein. Meine Eltern unternahmen damals gelegentlich Hamsterfahrten aufs Land. Mit Obst und Gemüse waren wir durch unsere Gärten gut versorgt und mein Großvater väterlicherseits hatte außerdem Hühner. Das war auch nicht schlecht. Andere Dinge wie Fett und Schweinefleisch waren Mangelware. Meine Eltern waren schon ein paar Tage auf Hamsterfahrt und meine Oma hatte mich zu Bett gebracht. In jener Nacht kehrten meine Eltern zurück. Meine Mutter weckte mich. Dann hat sie mir stolz eine dick mit Schweineschmalz bestrichene riesige Scheibe Bauernbrot präsentiert. So etwas hatte ich bis dahin nicht gesehen. Es sah nicht besonders appetitlich aus. Ich weiß noch genau, dass ich mich fragte, warum sie mich deshalb aus dem Tiefschlaf geholt hatte. „Iss“ sagte sie „Na mach schon.“ Es war das Köstlichste, was ich bis dahin gegessen hatte. Das Schmalz umschmeichelte meinen Mund und meine Kehle, der leicht säuerliche Geschmack des Bauernbrotes gab dem Ganzen eine wunderbare Würze. Ich liebe Schmalzbrote bis heute.
Strawinsky räuspert sich. Wahrscheinlich ist ihm langweilig.
Wir haben noch etwas Zeit. Erzählen Sie mir bitte noch etwas aus ihrer Kindheit.
Ich denke einen Moment nach und dann fällt mir die Geschichte mit dem Abschlussfest im Kindergarten ein.
Am Ende meiner Kindergartenzeit entschieden meine Kindergärtnerinnen, ein großes Fest zu feiern. Dazu sollten wir Kinder ein Spitzenprogramm präsentieren, um Eltern, Verwandten, Nachbarn, Freunden, ach ich weiß nicht, es wurde irgendwie Gott und die Welt eingeladen, und all diesen Leuten wollte man zeigen, in was für einen tollen Kindergarten wir gingen. Wir übten Lieder und Gedichte, es wurde ein Blockflötenorchester zusammengestellt und wir haben halt so ein Zeug geprobt, zu dem wir Fünf- und Sechsjährigen zwar in der Lage aber überhaupt nicht motiviert waren. Ich erinnere mich auch nicht an irgendwelche Wunderkinder mit überragenden Geige- oder Klavierkenntnissen.
Mein Pech war, dass ich immer schon sehr groß war und alle anderen überragte. Deshalb wurde ich für den Prolog ausgewählt. Da hatten sich die Kindergärtnerinnen echt Mühe gegeben, wahrscheinlich wollten sie Schiller übertrumpfen. An den Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Mutter als examinierte Kindergärtnerin war mit mir besonders ehrgeizig. Sie hat diesen Text solange mit mir eingeübt, bis ich ihn ohne Mühe vorwärts und gegebenenfalls auch rückwärts hätte vortragen können. Ich erinnere mich noch genau an den großen Tag.