Blutendes Silber. Peter Raupach

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Blutendes Silber - Peter Raupach

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zog mit aller Kraft am Tau. Er stemmte sich dabei mit den Füßen gegen die rutschigen Planken. Aber er schaffte es nicht einmal, ein paar Meter mit dem Tau über das Deck zu gehen. Verzweifelt schaute er in die Richtung, wo er den Jungen im Wasser vermutete. Seine Augen füllten sich vor Verzweiflung mit Tränen. In diesem trüben Schleier sah er, wie der Lockenkopf kurz auftauchte und dann schon weit entfernt vom Schiff im Wasser unterging. Heinrich sollte keine Zeit bleiben zur Trauer. Das Schiff ruckte kurz, dann krachte es ohrenbetäubend. Heinrich wurde nach vorn geworfen, hart schlug er auf das Deck. Das Schiff war auf Grund gelaufen. Kaum stand Heinrich wieder auf den Beinen, knirschte und ächzte das Schiff und begann sich zu drehen. Augenblicklich lag es quer zum Fluss und die Strömung brauste gegen die Bordwand. Das Schiff ging sofort in eine gefährliche Schräglage. Verzweifelt versuchte Heinrich, sich irgendwo festzuhalten. Es polterte und krachte beim Verrutschen der Salzfässer. Heinrich klammerte sich an eine Seilöse an der Bordwand, die durch die zunehmende Schräglage des Schiffes schon fast mannshoch über dem Fluss stand. Hastig schaute er über das Deck nach dem Schiffer, doch da war niemand mehr. Taue, Fässer, Besen und Schaufeln rutschten von Deck in das schäumende Wasser. Mit kreischendem Geklirr löste sich die Ankerkette, etwas hatte sich in dem Mechanismus der Winde verklemmt. Nun veränderte sich das Geräusch des Flusses merklich. Für Heinrich klang es so ähnlich, als ob Gertrude die Magd den Badezuber mit Wasser füllen würde. Nur viel, viel gewaltiger. Das Schiff nahm Wasser auf. Dort wo Heinrich noch vor wenigen Stunden im unteren Lagerdeck geschlafen hatte, musste das Wasser schon brusthoch stehen. Ich werde hier ertrinken, wenn ich hier oben bleibe, dachte Heinrich. Er wunderte sich dabei selbst über seine scheinbare Ruhe. Vielleicht lag es an den Erlebnissen? Er hatte in das Gesicht der Angst gesehen und wie durch ein Wunder überlebt. Er gab sich einen Ruck, doch seine Hände wollten sich nicht lösen von der Bordwand. Mit aller Macht drängte es seinen Körper nur noch fester gegen das Holz. Ich gehe hier nicht weg! Doch du musst, du willst doch nach Hause, flüsterte sein zweites Ich. Er zwang sich ruhig zu atmen. Ich zähle jetzt bis drei, dann klettere ich auf dem Rand der Bordwand auf allen Vieren an die Bugspitze und versuche, ein paar Äste am Ufer zu ergreifen. Dort vorn hängen doch so große Äste einer Erle fast bis aufs Deck, überlegte Heinrich und schaute voller Zweifel zu den weit entfernten Ästen. Er begann zu zählen: „Eins, zwei, drei, vier…“ Tränen kullerten an seinen Wangen herunter. Das Schiff ging immer mehr in Schräglage und drohte, in wenigen Augenblicken zu kentern. Die Angst hatte nun Heinrich voll im Griff, er zitterte und verkrampfte immer mehr. Seine Hände waren schneeweiß vom Festhalten und er begann zu frieren. Dann bemerkte er eine Bewegung unter sich. Es flogen kleine Späne aus einem Spalt der schon schräg stehenden Decksplanken. Nach kurzer Zeit sah Heinrich eine Schnauze mit fingerlangen Haaren, lange blutverschmierte Zähne zeigten sich. Es war eine Ratte, die um ihr Leben kämpfte und sich verbissen durch den Plankenboden nagte. Trotz des rauschenden Getöses um sich, meinte Heinrich, deutlich ein schlurfendes Geräusch zu hören, als sie es schaffte, sich durch das entstandene Loch zu zwängen. Sie blieb neben dem Loch sitzen. Unmittelbar nach ihr folgte eine weitere Schnauze und ein viel größerer Körper zwängte sich durch das Loch. Deren vier Füße suchten nun den direkten Weg nach oben in Richtung Heinrich und rutschten zwei, dreimal ab. Das rotbraune Fell glänzte matt mit stumpfen grauen Flecken. Es war das Leittier. Alte, kluge Augen schauten Heinrich aus weniger als fünf Schritten Entfernung an. Die Ratte gab einen hohen Pfeifton von sich, schwenkte ihren fast körperlangen Schwanz wie ein Fähnrich seine Fahne auf die andere Seite. Dann begann sie sofort schräg, aber mit absehbarem Zick-Zack-Kurs, die Wand zu erklimmen. Über sechzig Füße folgten als rotbraune Schlange ihr nach. Ganz unten kam Panik auf. Zwei Kontrahenten, mit schon nassem Fell, bissen sich im Überlebenskampf. Die Wächterratte, die bis dahin neben dem Loch die ganze Zeit ausgeharrt hatte, schnappte nach den Schnauzen. Sofort trat Ruhe ein. Heinrich beobachtete alles fasziniert und hätte dadurch fast den Grund seiner eigentlichen Angst, nämlich hier jämmerlich zu ertrinken, vergessen. Der letzte Blick in die Augen des graubraunen Leittieres lehrte ihn jedoch eines Besseren. Nun zögerte er keine Sekunde mehr und schwang sich, ohne weiter zu überlegen vollends auf den Rand der Bordwand. Er kletterte, nein kroch, auf allen Vieren in Richtung Bugspitze zum Flussufer. Während er kroch, meinte er, im Rücken den Blick der Ratte zu spüren. Er kannte diesen Blick. Als er die ersten Äste einer Schwarzerle erreicht hatte, stellte er sich auf und bilanzierte die letzten Schritte auf dem Rand des Schiffes. Von oben sah er jetzt, wie weit sich der Rumpf in den Uferschlick gegraben hatte. Er kletterte herunter und sprang den letzten Meter, um trocken ans Ufer zu kommen. Überall lag noch Schnee. Ohne sich weiter umzudrehen, lief er eine kleine Böschung hoch. Oben angekommen, schaute er sich dann doch noch einmal zum Schiff um. Das lag wie ein künstliches Wehr vor dem Fluss. Die Strömung drückte und presste große Wassermassen an das Schiff, dessen Bordwand zunehmend mit angespülten Baumstämmen und Eisschollen zu kämpfen hatte. Irgendwann kippt das Schiff oder es bricht entzwei, dachte Heinrich und schüttelte sich innerlich, ob der überstandenen Gefahr. Er musste sich kurz sammeln. Wo war er hier eigentlich? Plötzlich spürte er die Erschöpfung und die Schmerzen in den Muskeln, die nach dem langen Festhalten an der Bordwand verspannt waren. Wenn ich hier bleibe und mich hinlege, erfriere und verhungere ich, dachte Heinrich. Nach kurzer Zeit stand sein Entschluss fest. Er würde so lange am Fluss entlang laufen, wie es hell war, um vielleicht auf ein Dorf zu stoßen, wo er über Nacht bleiben konnte. Er lief los und merkte sehr bald, dass es sehr schwierig war, einfach am Flussufer entlang zulaufen. Heinrich durchquerte sumpfige, nur teilweise gefrorene Wiesenabschnitte, undurchdringliches Ufergehölz und kniehoch verschneite Bachläufe. Manchmal musste er wieder zurück und ganze Abschnitte am Flussufer umgehen. So werde ich nicht weit kommen, dachte Heinrich. Nun setzte er sich doch auf einen Baumstamm, hielt kurz inne und überlegte, wie er es anstellen könnte, den Fluss nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem gut voran zukommen. Es war hier völlig windstill und für Ende Februar in der Sonne schon merklich warm. Hier bleibe ich jetzt einige Augenblicke, dachte Heinrich und streckte seine Beine aus. Er durfte sich hier nur nicht verirren, dachte er als er sich im Sitzen nach allen Seiten umdrehte. Unbewusst tastete er an die Brusttasche seines dicken Leinenhemdes, das er unter einem dünnen Umhang trug. Hier lag immer noch schwer und fast körperwarm sein Gesellenstück. Er hatte es nach seinem Fieber hier verborgen. Während er gedankenverloren das Metallstück mit der ganzen Hand umschloss, kreisten seine Gedanken um die nächsten Stunden. Gottfried, sein Bekannter oder besser gesagt der große Unbekannte, hatte Wort gehalten. Er hatte dafür gesorgt, dass Heinrich auf das Salzschiff kam. Nun musste Heinrich auch sein Wort halten. Egal, welche Schwierigkeiten sich noch auftaten, er hatte einen Auftrag. Er musste nach Magdeburg und sich um Gottfrieds Pferd kümmern. Von dort würde er zum Wolfenbütteler Schloss reiten und das Pferd dem herzoglichen Stallmeister übergeben. Dann konnte es nicht mehr weit bis Goslar sein. Vor seinen Augen sah er schon seinen Vater, wie der dann ungläubig auf das Gesellenstück schauen würde. Also gab er sich einen Ruck, stand auf und lief in gerader Linie mit einem fast Neunzig-Grad-Winkel vom Fluss weg. Dabei war er aber sorgsam darauf bedacht, sich einige Merkmale der Landschaft einzuprägen, hier ein größerer Baum, dort eine alte Biberburg. Sehr schnell änderte sich die Landschaft um ihn herum. Alles wurde lichter und überschaubarer. Als er die letzten Weißdorn- und Schlehenhecken hinter sich gelassen hatte, öffnete sich die Landschaft vor ihm völlig und er sah nichts als Felder und Wiesen. Ganz am Horizont entdeckte er Reihen von schlanken Bäumen, wahrscheinlich Pappeln. Er lief weiter und wäre im selben Moment fast eine Böschung hinab gestolpert. Vorsichtig kletterte er hinunter und fand eine einer Art Hohlweg. Tiefe Wagenspuren, die allerdings noch hart gefroren waren, wiesen diesen Weg als kleine Straße aus. Erst jetzt realisierte er auch die Kopfweiden, die den Weg säumten und irgendwann einmal geschnitten worden waren. Also sollten eigentlich menschliche Behausungen, wie Hufehöfe oder sogar ein Dorf nicht weit sein, überlegte Heinrich. Und weil dieser Weg ziemlich nah am Fluss verlief, konnte es sich auch um eine Handelsstraße handeln. Mit einem Mal waren seine Lebensgeister zurückgekehrt. Die Richtung der Flussströmung hatte er sich gemerkt, also lief er in diese Richtung. Denn er sagte sich, irgendwo da vorn musste Magdeburg sein. Er war nur kurze Zeit unterwegs, da durchbrach lautes Grollen und kurz darauf unheimlicher Donner die Stille. Heinrich duckte sich vor Schreck. Ganze Schwärme von Saatkrähen waren plötzlich in der Luft. Zwei, drei verängstigte Wildentenpaare flogen ziemlich tief über Heinrich hinweg. Das ist kein Gewitter, das ist das Schiff! Jetzt zerbricht es, dachte Heinrich sofort. Er meinte, fast einen Luftzug wahrnehmen zu können, der auf seine Brust traf, als ein noch gewaltigerer Donner

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