Blutendes Silber. Peter Raupach
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Der Wirt kannte fast alle hier, die Salzwirker, die Beamten und die Huren. Er sah sie alle jeden Tag, jede Woche und jeden Festtag. Er war sich sicher, eine Wirtschaft zu führen war eine Kunst. Er beherrschte sie. Hier herrschte sein Gesetz. Dies hier war seine Burg. Wer ohne zu murren zahlte, war gern gesehen. Wer regelmäßig kam, war geadelt. Anschreiben gab es hier nicht. Das war für Otto Graufell das erste Gesetz. Das zweite Gesetz hieß: Wer sich prügelt, hatte für ein Jahr Hausverbot. Seine Kunden fürchteten dieses Gesetz. Er war ein gottesfürchtiger Mann. Er hielt sich an die Schrift. Alle Psalmen und Sprüche kannte er in Latein und in Deutsch. Er war sich sicher, dass Grobheiten und Händel nur aus der Missgunst, der Unehrlichkeit und der Eifersucht entstanden. Alle diese Sünden waren ein direkter Verstoß gegen die Gebote des Moses. Während er den Ledereimer mit frischem Brunnenwasser in das gemauerte Becken kippte, ärgerte er sich zum wiederholten Male über die letzte Sonntagspredigt in der Marktkirche. Dieser Prediger vom Dom, wie hieß er doch gleich, ach ja, Conrad, Conrad von Wiesenfeld oder so ähnlich, dachte Otto erbost. Jedenfalls schüttete dieser Prediger wieder und wieder Salz in die offene Wunde. Immer und immer wieder wurde das Würfelspiel gegeißelt. Er sah dann die alten Jungfern aus seiner Gasse tuscheln. Hinter seinem Rücken zeigten sie mit ihren gichtigen Finger auf Otto. Manche konnten sich selbst nach der Predigt kaum beruhigen. Wenn dies so weiter geht, dachte Otto, werde ich mir wohl eine andere Kirche suchen müssen. In diesem Moment nahm er eine Bewegung war. Durch die am Ausschank nun schon fast zweireihig stehenden Männer, schnellte eine Hand hervor und legte blitzschnell ein winziges Goldstück auf das Ausschankbrett. Sofort wurde es völlig still am Ausschank. Otto kannte seine Schwäche für Gold. In der gleichen Sekunde wusste Otto: Das konnte nichts Gutes bedeuten! Niemand hatte hier seit Jahren mit Gold bezahlt! Nun suchte er das Gesicht zu der Hand. Sein Blick blieb an einem feisten runden Gesicht mit typischer Tonsur hängen. Was Otto weiter sah, beruhigte ihn überhaupt nicht. Ein Dominikaner! Auch das noch, dachte Otto. Im gleichen Moment siegte Ottos Erfahrenheit im Umgang mit solchen unliebsamen Personen. „Wollt Ihr, Pater, gleich ein ganzes Fass kaufen oder für einen Monat Eure Schlafstatt im Konvent mit der in einer Wirtschaft tauschen?“ Die Antwort ging im schallenden Gelächter der Umstehenden unter. Die kleinen Augen des Mönches blitzten wieselhaft auf. Gequält das Gesicht verziehend, winkte der Mönch mit seinem Zeigefinger Otto vertraulich zu sich. Otto ging deshalb näher an das Ende des Ausschankbrettes, neben einem Stützbalken der Decke. Der Dominikaner verstand und war blitzschnell an der Seite von Otto. Otto ertappte sich dabei, dass er sich innerlich schüttelte. Irgendetwas Boshaftes ging von diesem kleinen feisten Mann aus. Dieser klebte nun förmlich an Ottos Ohr, der sich zu ihm herunter beugte. Mit einer, so schien es Otto, schmerzhaft hohen Fistelstimme, schnappte der Mönch die Worte: „Man sagte uns, Ihr seid ein gottesfürchtiger Mensch. Beweist es und gebt mir Auskunft. Wer sind die Beiden dort am hinteren Tisch gleich neben dem Fenster? Schaut nicht hin! Wie lange bleiben Sie? Wollten Sie ein Zimmer? In welchem Zimmer werden sie nächtigen?“
Otto nahm sich ein Glas und begann, es mit einem Zipfel seiner Schürze zu putzen. Dabei antwortete er betont langsam, ohne dem Mönch in die Augen zu schauen:
„Nichts dergleichen. Allerlei Gesindel kehrt hier ein. Wir nehmen die Bestellung auf, wenn man uns bedeutet, dass man zahlen kann. So ist es auch bei diesen. Steckt Euer Geld ein und gebt es den Bedürftigen.“ Ein Zischen war die Antwort. Als Otto das Glas weggestellt hatte und er zum Mönch schauen wollte, war dieser schon nach hinten in den vollen Schankraum geschlüpft. Otto sah noch kurz, dass sich die Eingangstür öffnete und dann wieder schloss. Otto hatte verstanden. Ich werde Gottfried schnell warnen müssen, dachte er, bevor er nach hinten in die Küche ging. Hier arbeitete Maria, die Küchenmagd. Sie hatte ihren Rock wegen der Hitze weit über die Knie nach oben gezogen. Mit einem Strick hatte sie den Stoff unter der Brust befestigt, was sicher ungehörig war. Otto übersah es beflissen und bat Gott in Gedanken um Abbitte für dieses ansehnliche Weib. Hochgerötet und schwitzend vor Eile schüttete Maria gerade etwas Brühe zur Hirse. Ihre beiden kleinen Kinder lagen fest geschnürt am Rücken der Mutter. Beide schienen winzig auf diesem breiten Rücken. Otto sah liebevoll, wie ein Vater, auf die Kinder. Sie nuckelten beide mit geschlossenen Augen an ihrem Daumen. Er rief nun halblaut mit belegter Stimme: „Maria!“ Sie war so in die Arbeit versunken, dass sie nicht gleich reagierte. Nun lauter: „Maria, Ihr habt jetzt frei!“ Und um vieles leiser, nachdem sie sich erschrocken umgedreht hatte: „Verlasst schnell das Haus. Es droht Gefahr! Vertraut mir. Hier habt Ihr Euren Lohn.“ Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Augen. Das leichte Erschrecken Marias war schnell einem aufmerksamen Gesichtsausdruck gewichen. Maria schaute Otto liebevoll an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie nickte langsam. „Habt Dank, Otto Graufell“, sagte sie. Dann griff sie sich den gepackten Tragesack und verschwand, wie vor langer Zeit besprochen, durch die Hintertür. Draußen öffnete sie kurz ihre Faust. Auf ihrer Hand lag ein kleines Goldstück.
Noch bevor der Hahn schrie, brannte das Gasthaus lichterloh. Gespenstisch schlugen die Flammen meterhoch. Hinter einem umgestoßenen Gläserschrank lag Otto auf dem Rücken. In seinem aufgerissenen Mund steckte seine ihm vorher abgetrennte Hand. Die ehemals leuchtenden Augen schauten in die Weite des Alls, als das Dach berstend über ihm aufriss. Auch jetzt noch schien das Gesicht wissend zu lächeln. Der Türmer stürmte beim ersten hellen Lichtschein aus der Hausmannsstube. Von der Brücke, die die beiden Hausmannstürme der Marktkirche verband, schaute er entsetzt hinunter auf das Inferno. Dann hing er sich mit ganzer Kraft in das Seil der Großen Glocke „Zur Rettung des Seelenheils“. Zwischen den gewaltigen Schlägen der Glocke hörte der Türmer nur das Knarren des dicken Hanfseiles, wenn es nach dem Ziehen aus der Höhe zurück kam. Mit einem Mal waren die Bürger der Stadt wach. Nach wenigen Augenblicken des Entsetzens begannen sie, aufgeschreckt von allen Seiten kommend, Ledereimer und Holzzuber mit Wasser zu füllen. Ein Gedanke beherrschte nun jede Seele. Wenn man das Feuer nicht eindämmen konnte, würde bald die ganze Stadt brennen. Diese Angst und bei vielen auch Mitleid mit dem Unglück der Bewohner der Gastwirtschaft, stand in den Gesichtern der Helfer. Der Türmer brach erschöpft zusammen.
Die Funken stoben aus dem offenen Dach, weit hinauf in die Nacht. Sie aber schwebte langsam nieder. Für einen winzigen Moment blieb die kleine Daunenfeder einer Taube auf Ottos Stirn liegen. Dann verglühte sie in der Hitze, wie eine flüchtige Sternschnuppe, als ein letztes Streicheln der Unendlichkeit.
Als Heinrich wach wurde, hörte er merkwürdige Geräusche. Sein Kopf stieß an Holz. Er lag in etwas Schaukelndem. Seine Schulter und sein Kopf schmerzten. Wo war er hier nur? Wo war Gottfried? Es roch verbrannt, nein sein Umhang, Hemd, selbst die Beinkleider rochen intensiv nach verbranntem Holz und heißer Asche. Er tastete neben sich und fand den Beutel. Er hatte ihn immer noch bei sich. Conrad, der Oberprediger, hatte diesen ihm als einzigen Dank fast vor die Füße geworfen. Nun merkte er, wo er war. Er war auf einem Schiff! Er lag kurz unter einer niedrigen Decke in einer Hängematte! Doch wie kam er hierher? Sie waren doch beide im Gasthaus. Beschämt erinnerte er sich nun daran, dass er am Tisch irgendwann eingeschlafen sein musste. Er war gewürztes Bier nicht gewohnt. Aber so fest zu schlafen und nichts zu hören? Dann polterte auch schon etwas auf einer Treppe.