Erinnerungen. Sarah Preisler
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Damals war es sehr schwer für ihn gewesen, zu akzeptieren, wer und vor allem wie er war. Als Kind hatte er Angst vor sich selbst. Er konnte sich selbst nicht mehr trauen, er war nicht mehr er.
Diese Videoaufnahme hatte sein Leben eher ins Negative gezogen.
Niemand wollte ihn haben. Als Freund, als Schüler oder als Auszubildender. Er wurde gefürchtet und das war schlimm. Schließlich hatte Chris schon genug Angst vor sich selbst. Mussten ihm das seine Mitmenschen nun auch noch unter die Nase reiben?
Wahrscheinlich schon, dachte er sich bitter und schob seine Gedanken in die staubige Ecke in seinem Kopf. Und das letzte, was er vor dem Einschlafen spürte, war, dass diese sich mit seiner Angst wie alte Bekannte begrüßten und schon einen neuen, teuflischen Plan ausheckten.
Am nächsten Morgen hatte Chris einen Plan.
Ehrlich gesagt, hatte er noch nie einen richtigen Plan in seinem Leben gehabt, hatte immer nur nach Wünschen und Träumen gelebt.
Doch nun war es so weit. Er hatte ein Ziel, als er an diesem grauen, kühlen Tag die Wohnung verließ und durch die Nebenstraßen schlenderte.
Und es kam ihm so vor, als würde er zum ersten mal die Welt sehen. Mit ihren Ecken und Kanten, aber auch mit den wunderschönen Dingen, die sie ausmachten.
Als er beim Rathaus angekommen war, schien es, als sei er um Jahre und Erfahrungen gealtert. Doch es fühlte sich gut an.
Die Angst vor dem Alt sein, vor dem Ungewissen, die schien zu schrumpfen. Warum sollte man sich nicht mit dem zufrieden stellen, was man hatte? Es war auf seine eigene Art und Weise perfekt und einzigartig.
Chris stand da. Einfach so, ohne einen Muskel zu bewegen.
Er hatte im Gefühl, dass sich eine neue Tür öffnen würde, wenn er da rein ging. Falls er überhaupt in das Gebäude reinkam. Doch wenn eine Tür sich öffnete, dann fiel eine andere hinter ihm zu.
Der junge Mann sah entschlossen zu dem Gebäude auf.
Er wollte den Alten zur Rede stellen. Ihm sagen, dass es eine ungeheure Respektlosigkeit gewesen war, ihm nichts über den Inhalt des Päckchens zu verraten. Chris war sich sicher, dass der Alte gewusst hatte, was sich darin befunden hatte. Das es ein Stück einer Seele war, einer wahrscheinlich toten Seele.
Chris wollte dieses Tagebuch nicht in seiner Nähe haben und er wollte es erst recht nicht lesen. Wer wusste schon, was er darin finden würde?
Der Alte wird es wissen. Er hat mir einiges zu erklären!
Und mit diesen Gedanken stieg er die wenigen Stufen empor und klopfte wie am Vortag gegen die massive Tür. Und ebenso geschah nichts und Chris war gerade dabei, sich zu fragen, ob das ein Scherz sein sollte, als die Tür sich nun doch öffnete und eine alte Frau mit Brille vor ihn trat und ihn fröhlich musterte. Der Morgenmantel, den sie eng an sich ziehend trug, schliff am Boden entlang, als sie zwei kleine Schritte auf ihn zu machte und seine Hand mit einem kräftigen Händedruck schüttelte.
„Wir haben zu diesen frühen Morgenstunden noch geschlossen, junger Mann.“, meinte sie freundlich und war schon im Inbegriff die Tür wieder zu schließen, als Chris sie endlich unterbrach. „Ich muss mit einem alten Mann sprechen!“, sagte er und seine Stimme klang dabei ein wenig zu hektisch, zu angespannt.
Sein Gegenüber sah ihm lange und skeptisch in die Augen, ehe sie wieder mit einem freundlichen Lächeln erklärte:„Tut mir leid, aber ein alter Mann arbeitet hier nicht. Schönen Tag noch.“ Und wieder wollte sie sich umdrehen, doch Chris ließ nicht locker.
Er wusste, dass sie ihn anlog.
„Er heißt Scout, oder so. Er hat einen Gehstock! Gestern war er noch hier, dass schwöre ich. Ich muss mit ihm sprechen, es ist wichtig. Es geht um“, Chris stockte kurz und suchte nach den passenden Worten, „eine Mission. Es geht um meine Mission, die er mir aufgetragen hat! Und sie ist anscheinend ziemlich wichtig. Doch ich muss gestehen, dass ich sie nicht verstehe, die Mission. Bitte, ich weiß, dass er da ist. Bitte, gute Frau!“
Und nun hörte er dumpfe, humpelnde Schritte und der Alte erschien hinter der Frau und schickte sie mit einer Geste davon.
Das Herz von Chris begann augenblicklich schneller zu schlagen, als er wieder in die Augen des Alten sah. Sie waren immer noch sternenklar und hypnotisierend und Chris hatte alle Hände voll zu tun, ihn nicht unhöflich anzustarren oder ihn zu bitten, dass er nächste mal doch bitte eine Sonnenbrille aufzusetzen.
Der junge Mann wollte etwas sagen, doch der Alte unterbrach ihn, in dem er seine sehnige Hand präzise und kontrolliert nach oben hob.
„Habe ich dir nicht gesagt,“, fing der Alte mit seiner rasselnden, rauen Stimme an zu sprechen, „dass man nicht bettelt, wie ein Hund?“
Doch im Gegensatz zum letzten mal, war da kein Zorn in der Stimme des Alten, sondern Belustigung.
Chris entspannte sich etwas. Erleichtert, über die Stimmung seines Gegenübers.
„Ja, dass haben Sie, Sir. Aber Hunde sind gar nicht so schlecht. Meiner hat mir wahrscheinlich täglich das Leben gerettet, wissen Sie, Sir? Ich bin wegen dem Päckchen hier. Ich weiß, dass Sie den Inhalt kennen. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie mir auch den Zettel geschrieben haben. Doch ich verstehe nicht. Ich möchte nichts mit dieser verschollenen Frau zu tun haben, ehrlich nicht.“, erzählte Chris ruhig und sah dabei auf einen Punkt in der Ferne. Er beobachtete, wie der Wind sein Spiel mit den Bäumen trieb und wie eine Frau ihr Kind von der Schaukel hob und weiter durch den Park schlenderte.
Als seine Augen wieder die des Alten fanden, fing dieser an zu sprechen.
„Immer bei der Sache bleiben, mein Junge. Kommen Sie rein.“
Und damit drehte er sich um und ließ Chris verblüfft hinter sich stehen.
Kapitel 5
Es war hier anders, als Chris erwartet hatte.
Wenn er sich das Innere dieses Rathauses vorgestellt hatte, dann waren vor seinem geistigen Auge immer Wartezimmer mit grünen, unbequemen Stühlen, lange, trostlose Gänge und eine mürrische Frau am Empfang erschienen. Vielleicht auch langweile Bilder an der Wand, von Künstlern, die niemand kannte und ein paar abgegriffene Magazine mit dem neusten Klatsch und Tratsch.
Doch so war es hier ganz und gar nicht.
Hier sah es so aus, wie in einem ganz normalen Wohnhaus. Zugegeben, die Einrichtung war nicht mehr die modernste, aber das erweckte ein Urvertrauen in dem jungen Mann.
Er fühlte sich so ähnlich, wenn er das Haus seiner Großeltern betrat.
Augenblicklich stellte er sich den Eingang vor. Die schlichte, dunkle Holztür und davor ein Fußabtreter, der schon seit Ewigkeiten dort lag. Im Inneren war alles sehr schlicht und abgenutzt. Schon oft hatte er seinen Großeltern angeboten, das Haus mit ihnen zu renovieren, aber sie bestanden darauf, in der alten Zeit weiterzuleben. Mit jeder Erinnerung, die die kleinen Fehler in ihrem Heim hervorriefen.
Er schmunzelte, als er daran dachte, wie ihm der Topf voll mit Wasser auf die guten Fliesen in der Küche gefallen war, als sein