Wenn alles in Scherben fällt. Wolfgang Kirchner

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Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner

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mit Großmutter ein schmales Lager teilt, flüstert Mama zu: „Bloß nicht mit denen mitgehen!“

      „Warum nicht?“

      „Wenn erst die Russen weitergezogen sind“, sagt Großvater leise, „kommen die Polen, dann geht's uns wieder gut!“

      Vor dem Krieg hat Großvater, der Bauunternehmer war, die polnische Post gebaut. Er trug einen polnischen Namen, bis die Deutschen ihn zwangen, sich eindeutschen zu lassen.

      „Die Polen werden uns nichts tun, ich kenne sie!“ flüstert er Mama ins Ohr.

      Der schneidige SS-Mann hat es gehört. „Bedenken Sie, wie wir mit den Polen umgesprungen sind…!“ Er wendet sich an Papa: „Ich kann Sie nicht verstehen. Ich würde meine Familie doch nicht dem Iwan ausliefern!“

      „Wir bleiben!“ sagt Papa.

      3.

      „Seit die SS weg ist“, schreibt meine Mutter abends auf das Kalenderblatt vom 27. März, „fragen die Kinder mich, warum wir nicht längst aus Danzig geflohen sind. Warum ich nicht ohne Ernst mit ihnen ins Reich gefahren bin. Im Januar hatten wir Karten für das Flüchtlingsschiff ‚Wilhelm Gustloff’. Aber ich wollte meinen Ernst nicht alleinlassen. Er war verpflichtet, in Danzig zu bleiben. Dann wurde die ‚Wilhelm Gustloff’ torpediert und ging unter – mit Tausenden von Frauen und Kindern. Und alle aus der Verwandtschaft beglückwünschten mich, dass ich im letzten Augenblick die Schiffskarten zurückgegeben hatte.“

      In dieser Nacht wird es draußen ruhig, zum ersten Mal, seit im Januar die Offensive der Russen begann. Kein Fliegerangriff mehr. Keine Granaten heulen übers Haus. Keine Luftminen explodieren in unserer Nähe. Nur Gewehrfeuer ist in der Ferne zu hören. Dann verstummen auch die MGs. Die plötzliche, ungewohnte Stille macht uns Angst. Wir sitzen im Luftschutzkeller eng aneinandergedrückt und beten. Plötzlich fällt Klara etwas ein. Rasch schickt sie Diti nach oben. „Schau nach, ob die SS etwas vergessen hat, das die Russen nicht finden dürfen!“

      Als Diti wieder herunterkommt, sagt er: „Die haben vielleicht gehaust! Überall stehen leere Flaschen herum! Die müssen total besoffen abgezogen sein! Und die Klos vollgekackt! Die Schweine! Sie haben doch gemerkt, dass kein Wasser mehr läuft!“

      Papa fragt: „Hast du meine Uniform gut vergraben?“ Papa hatte zwei Uniformen: die braune SA-Uniform und die feldgraue Wehrmachtsuniform eines Reserveoffiziers. Beide Uniformen hat er seit langem nicht mehr getragen. Schon 1941 ist er vom Wehrdienst befreit worden. Die SA-Uniform hat Diti vor Wochen im Ofen unserer Zentralheizung verbrannt. Die Wehrmachtsuniform hat er vor ein paar Tagen in den Jäschkentaler Wald gebracht und in einen Luftminenkrater geworfen – ein Loch so groß, dass man ein Einfamilienhaus hineinstellen könnte. Zum Vergraben kam Diti nicht mehr. Die Artillerie begann wieder zu schießen, und Diti rannte um sein Leben.

      „Soll ich ein weißes Laken heraushängen?“ fragt Diti. „So wissen die Russen gleich, dass aus unserem Haus nicht geschossen wird!“

      Davon will mein Vater nichts hören. „Die SS könnte zurückkommen…!“

      Warnend hatte der schneidige SS-Mann erzählt: „In der Halben Allee, zwischen Danzig und Langfuhr, hängen die Bäume voll deutscher Soldaten, die die weiße Fahne geschwenkt haben, die kapitulieren oder desertieren wollten…!“

      Das Rosenkranzbeten macht uns schläfrig. Einer nach dem anderen verstummt, schließlich schlafen alle, unter Tischen und Stühlen, auf Matratzen, die fast den ganzen Boden des Luftschutzkellers bedecken.

      Mitten in der Nacht werden wir aus dem Schlaf gerissen: Auf der Straße fahren schwere Panzer vorbei. Das Haus dröhnt vom Rasseln der Ketten. Fräulein Plasse schaut hinter ihrem Vorhang hervor und ist ganz aufgeregt: „Unsere Truppen kommen zurück!“

      Ein wenig später - Schritte über uns. Männer poltern durchs Haus. Zum ersten Mal hören wir russische Stimmen. Die Tür wird aufgerissen, die in den Keller führt. Jemand tastet die dunkle Treppe herab. Wir sitzen auf unseren Matratzen am Fußboden, beten laut und starren voll Angst in den Flur. Eine Pistole mit langem Lauf schiebt sich um den Treppenvorsprung und richtet sich auf uns. Mein Herz klopft so stark, dass ich es im Hals spüre.

      Ich sitze der Tür gegenüber, die in den Flur und zur Treppe führt. Auf mich kommt der Russe zu, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug – mich wird er als ersten niederknallen… Aber der russische Soldat schießt nicht. Er schaut sich überrascht im Luftschutzkeller um: So viele Frauen, Kinder und alte Leute auf so engem Raum! Fröhlich ruft er: „Guten Tag! Gitler kaputt!“

      „Gitler“ klingt so komisch! Dass bisher keiner auf die Idee gekommen ist, unseren geliebten Führer ‚Gitler’ zu nennen. Wir brechen in befreiendes Gelächter aus, lachen unsere Todesangst weg, und der Russe lacht mit.

      „Sind hier Faschisten? Soldaten?“ fragt der Rotarmist.

      „Nein! Keine Soldaten!“ rufen wir alle.

      Der Russe steckt die Pistole in die Ledertasche, die an seinem Gürtel hängt, und greift nach dem Glas Wein, das Papa ihm zur Begrüßung reicht. Doch beim ersten Schluck verzieht der Soldat das Gesicht und flucht. Gleich ist bei uns die Angst wieder da. Was hat Papa falsch gemacht? Er hat die Flaschen verwechselt - versehentlich hat er dem Russen Wasser eingeschenkt. Schnell öffnet Diti eine Weinflasche. Diesmal schmeckt es dem Russen, er strahlt. Aus seiner Feldflasche bietet er Papa einen Schluck an, und Papa trinkt. „Wodka!“ sagt Papa anerkennend, ehe er die Feldflasche dem Russen zurückgibt.

      Andere Soldaten kommen herunter, drängen sich im engen Keller, schauen neugierig, freundlich zu uns herein. Auch sie wollen einen Begrüßungsschluck – und kriegen ihn.

      Ein Russe schlägt den Vorhang beiseite, hinter dem sich Fräulein Plasse versteckt. Verlegen lächelnd kreuzt sie die Arme vor der Brust. Dabei wird ihre Armbanduhr sichtbar. Der Russe bedeutet ihr, sie abzunehmen. Fräulein Plasse reicht ihm die Uhr, und er geht.

      Der Russe, der nach ihm kommt, zerrt Fräulein Plasse aus ihrer Ecke. Sie hat das Unglück, der Tür am nächsten zu sitzen. Papa stolpert über die Matratzen, um Fräulein Plasse zu Hilfe zu kommen. Begütigend redet er auf den Russen ein. Der stößt ihn weg, zerrt weiter an Fräulein Plasses Arm. Wir schreien durchdringend. Fluchend geht der Russe aus dem Keller.

      „Die Frauen nach hinten“, sagt Papa, „hinter die Pfeiler, schnell!“

      Von unserem Geschrei alarmiert, kommt ein russischer Offizier die Treppe herunter, ein kleiner drahtiger Mann mit tadellos gepflegter Uniform voller Ordensspangen.

      „Warum habt ihr geschrien?“ fragt er auf Deutsch. Weinend zieht Fräulein Plasse in die dunkelste Ecke des Kellers um. „Ich bin Kommandant! Ihr könnt mich immer rufen! Ich wohne oben! Wenn meine Soldaten sich schlecht benehmen…“

      In dieser Nacht rufen wir ihn ein paarmal. Er kommt zwar nicht herunter, aber das durchdringende Geschrei von zwölf Kindern schlägt die Russen, die den Keller auf der Suche nach Uhren und Frauen durchstöbern, in die Flucht.

      Am Morgen wage ich mich hinter Diti hinaus in den Garten. Wo vorher die Raupenfahrzeuge der SS standen, sind jetzt Panjewagen der Russen, leichte, zerbrechlich aussehende Leiterwagen, und kleine Pferde mit dreckigem Fell und struppiger Mähne sind an unsere Obstbäume gebunden und fressen Hafer aus einem Sack, der ihnen um den Hals hängt.

      „Wie sind die Russen auf diesen Wägelchen den weiten Weg

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