Wenn alles in Scherben fällt. Wolfgang Kirchner
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Читать онлайн книгу Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner страница 6
Das Geschrei der Kinder unten und Ditis Rütteln machen den Offizier endlich wach. Torkelnd geht er hinter uns her zur Kellertreppe, reißt die Tür auf und brüllt etwas hinunter. Keiner der Soldaten hört auf ihn. Er stolpert die Stufen hinab, doch sie nehmen keine Notiz von ihm. Unser Kommandant ist klein, und die Soldaten sind schwere, selbstbewusste Kerle. Der Kommandant kann nicht befehlen, muss seinen Soldaten gut zureden, damit sie von Klara ablassen. Es dauert einige Zeit, bis sich das Knäuel um Klara löst. Fluchend gehen die Soldaten aus dem Keller. Der Kommandant folgt ihnen nach oben. Wer weiß, ob er noch einmal kommen wird, um uns zu helfen. In den nächsten Stunden haben wir Ruhe – aber was wird morgen sein?
Am nächsten Tag steigen zwei Russen die Treppe zur Waschküche herunter. Sie gehen schnell, entschieden, als ob sie einen Auftrag haben. Im Keller suchen sie gründlicher als alle, die vorher da waren. In jede dunkle Ecke schauen sie. Aber sie nehmen nichts mit. Endlich kommen sie auch in den Luftschutzkeller. Mama, Klara und Frau Duschau haben die Kleinsten auf den Arm genommen. Ängstlich starren sie den beiden entgegen, die weder „Uri“ sagen noch „Komm, Frau!“, sondern nur „Dokumente!“
Sie lassen sich Zeit mit der Prüfung der Pässe. Großvater erklärt auf Polnisch, wie alt er ist, aber davon nehmen sie keine Notiz.
Sie reichen die Pässe zurück und fragen etwas auf Russisch. Da niemand sie versteht, gehen sie wieder. Ich folge ihnen und erschrecke, als einer von ihnen die Tür zum Heizungskeller öffnet. Ich weiß: Dort ist Papa. Hier unten gibt es keine Toilette, daher gehen die Erwachsenen hinter den Koks. Ich schaue an den Soldaten vorbei in den dunklen Heizungsraum. Papa ist nicht zu sehen. Der Soldat ruft etwas in den Keller, da höre ich Schritte auf dem Koks, und Papa kommt hervor. Der Russe winkt ihn heraus. An der Tür packt er Papa am Arm, hält ihm die Pistole an den Kopf und drängt ihn zur Kellertreppe. Weil Papa die Stufen nicht schnell genug hinaufgeht, gibt der andere Soldat ihm einen Tritt. Papa schaut sich nach ihm um – und sieht mich. Da fange ich an zu schreien...
Schreiend laufe ich zurück in den Luftschutzkeller. „Sie haben Papa mitgenommen!“ Ich werfe mich über den Tisch und schluchze.
„Wo ist Diti?“ fragt Mama ruhig, als habe sie es kommen sehen. „Geh Diti suchen! Sag, er soll Papa hinterhergehen! Er soll aufpassen, wo sie in hinbringen!“
„Lassen sie Papa wieder laufen?“ frage ich heulend. „Lassen sie ihn bald wieder frei?“
„Warum sollen sie ihn festhalten?“ beruhigt Mama mich. „Er hat keinem was getan!“
Weinend laufe ich in den Garten. Diti sitzt bei den Russen am Lagerfeuer, als ob er schon zu ihnen gehört.
„Diti!“ schreie ich. „Sie haben Papa geholt!“
Er springt auf, und zusammen laufen wir auf die Straße. An der Kreuzung Johannisberg – Jäschkentaler Weg stehen, von Soldaten bewacht, etwa dreißig Männer, und immer mehr werden gebracht. Mitten unter ihnen Papa.
„Warum ist er hinter dem Koks hervorgekommen?“ Wieder fange ich an zu heulen. „Warum hat er sich nicht versteckt?“
„Du kennst Papa nicht!“ Diti schüttelt den Kopf. „Papa würde sich nie verstecken! Warum auch? Er hat nichts zu verbergen!“
„Trotzdem haben sie in mitgenommen!“
Eine ganze Weile steht Diti ratlos da, sagt kein Wort, schaut zu Papa hinüber.
„Du musst ihm helfen abzuhauen!“ sage ich.
„Wie denn?“
„Du findest schon einen Weg!“
Diti hat eine Idee. „Bleib hier stehen!“ befiehlt er mir. „Behalt Papa im Auge! Bin gleich wieder da!“
Mit einer Decke, in die ein Kommissbrot gewickelt ist, kommt er zurück. Aber die Posten lassen ihn nicht an Papa heran. Sie drängen die Männer gegen ein hohes Gitter; dahinter, zwischen Bäumen und Hecken, steht ein Schlösschen, die Villa des Postpräsidenten. Diti läuft mir voraus durch die Toreinfahrt, schleicht am Gitter entlang durch den Garten zu den Gefangenen, zeigt einem, der am nächsten steht, unseren Vater und flüstert: „Den Mann da - schleusen Sie den vorsichtig ans Gitter!“
Es dauert lange, bis Papa, Schritt für Schritt zurückweichend, die Posten im Auge behaltend, den Zaun erreicht. Diti will ihm das Päckchen durch die Stäbe schieben, aber das Kommissbrot ist zu dick. Er muss es hinüberwerfen. Ungeschickt und voll Angst, es könnte von den Soldaten bemerkt werden, versucht Papa, das Brot aufzufangen. Es fällt zu Boden. Mehrere Männer bücken sich danach. Diti steckt Papa noch eine Schachtel Zigaretten zu, in den letzten Kriegsjahren eine Kostbarkeit. Papa schüttelt verwundert und gerührt den Kopf. „Wo hast du die her?“
„Mach was, damit er fliehen kann!“ verlange ich von Diti.
Er schüttelt den Kopf.
„Wenn du ihm hilfst, schafft er es bestimmt! Wir verstecken ihn im Wald – oder bei den Koschalkes auf dem Land.“
Einen Augenblick lang ist Diti unsicher. Er schaut zu Papa hinüber.
„Wenn die Russen ihn wegbringen“, versuche ich Diti umzustimmen, „kann er nichts mehr für uns tun, kann Mama und Klara nicht beschützen! Er muss fliehen!“
„Es gibt so etwas wie Ehre“, sagt Diti. „Aber davon verstehst du nichts. Er hat nichts getan, weshalb soll er fliehen? Er hat ein reines Gewissen!“ Dann, nach einem Zögern: „Außerdem glaube ich, Papa ist nicht geschickt genug zum Fliehen...“
Die ganze Zeit behält Papa uns im Auge. Er reckt den Hals, und wenn sich mal ein Größerer vor ihn stellt, schiebt er ihn beiseite. Er hebt die Hand und winkt vorsichtig.
Im Luftschutzkeller erzählt Diti den Erwachsenen, wie streng die Russen Papa bewachen, dass sie uns nicht an ihn ranlassen, dass immer mehr Männer gebracht werden, alle so alt wie Papa und noch älter – viele stützen sich auf einen Stock.
„Wohin können sie die alten Männer schon bringen?“ sagt Mama und macht uns Hoffnung, dass wir Papa bald wiedersehen. „Du musst mit Papa mitgehen“, bittet sie Achim. „Vielleicht lassen sie dich bald wieder frei. Dann wissen wir wenigstens, wo er ist, und können hingehen und ihn verpflegen.“
Sie legt für Achim einen Anzug bereit. Er soll ihn anziehen. Wenn er älter wirkt, nehmen die Russen ihn mit.
„Wo kommt Papa hin?“
„Sicher in der Nähe in ein Gefangenenlager“, vermutet Mama. „Natürlich nur vorübergehend!“
Achim ist skeptisch. „Nur vorübergehend?“ Er wechselt mit Klara einen zweifelnden Blick.
„Wenn die Russen euren Vater so behandeln“, sagt Klara, „wie bei uns die russischen Kriegsgefangenen behandelt wurden… dann hat er nichts zu lachen!“ Aber Mama will jetzt keine Zweifel aufkommen lassen: „Arbeiten mussten die Gefangenen – wie jeder bei uns!“
Klara weiß es besser. Klaras Vater war Häftling im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. „Dort haben auch russische Kriegsgefangene gearbeitet“, sagt Klara, „aber lange hat man sie nicht leben lassen…“
„Papa wird eine Weile interniert, bis der Krieg