Wenn alles in Scherben fällt. Wolfgang Kirchner
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Читать онлайн книгу Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner страница 8
„Auf dem Wagen ist alles, was wir zu essen und zu trinken haben“, sage ich zu Mama, „und die Decken für die Nacht!“
„Ich hab was zu essen dabei“, ruft Klara. Über ihrer Schulter hängt eine schwere Tasche mit Proviant. Klara trägt den schlafenden vierjährigen Helmut auf dem Arm und hat einen Arm um den siebenjährigen Detlef gelegt, der ihr nicht von der Seite weicht.
Immer tiefer werden wir in den Wald geführt. Wenn ich mich umdrehe, um nach Diti Ausschau zu halten, sehe ich am Himmel einen riesigen roten Feuerschein. Hinter uns brennt die Stadt.
„Wissen Sie noch, Klara?“ sagt Mama. „Die polnischen Frauen auf der Langgasse – im September 1939? Sie zogen Bollerwagen mit armseligen Bündeln hinter sich her, und neben den Wagen gingen die Kinder. „Wohin gehen die bloß?“, habe ich die Leute auf der Straße gefragt. Keiner wusste Genaues. Einer sagte: „Aufs Land, wo sie hingehören! In unserer schönen deutschen Stadt jedenfalls haben sie nichts mehr zu suchen…“
Mama hat einen Augenblick lang die schweren Taschen abgesetzt; an eine klammert sich die übermüdete Dorothee. Die Großeltern sind zurückgeblieben; wir müssen warten, bis sie uns einholen. Die Kleinen wollen trinken. Hinter uns schimpfen Flüchtlinge, weil wir ihnen den Weg versperren und sie über unsere Taschen stolpern. Frau Duschau bringt das Gepäck vor den Füßen der Nachdrängenden in Sicherheit.
„Wir müssen weiter“, sagt sie, „meine Kinder schlafen im Stehen ein.“
Klara hat angehalten, um Helmut auf die andere Schulter zu legen.
„Als wir im Sommer in Bohnsack waren, weißt du noch?“ sage ich zu ihr. „Da hat auch was gebrannt.“
„In Bohnsack?“ Klara ist zu müde zum Nachdenken. „Das musst du geträumt haben.“
„Ich weiß genau, da hat was gebrannt!“ Immer habe ich daran denken müssen, wenn ich Papas Fotoalbum durchblätterte. Wir sitzen bei Bohnsack am Strand. Einige Fotos zeigen uns vor Kolskes Fischerhaus. Da wohnten wir zur Sommerfrische. ‚September 1939’ stand unter den Bildern.
„Als der Krieg anfing“, versuche ich Klaras Gedächtnis aufzufrischen. „Als wir an der Ostsee waren. Als sie anfingen zu schießen.“
Klara schweigt.
„Es war nachts, die Vorhänge waren zu. Kleine Fenster hatte das Fischerhaus. Und rot karierte Vorhänge.“
„An was du dich alles erinnerst!“
„Du trugst ein schwarzes Kleid, hast dich aufs Sofa geworfen und geweint. Nie habe ich einen Menschen so weinen gesehen wir dich. Du hast geschrien!“
Klara geht mit fast geschlossenen Augen neben mir her. Helmut auf ihrem Arm schläft.
„Mama hat gesagt, du sollst aufhören, die Kinder… “
Klara stöhnt. Helmut wird ihr zu schwer.
„Klara, reißen Sie sich zusammen… vor den Kindern! War das nicht so, Klara?“
„Ja. So war es. Genauso.“
„Was war da?“ will ich wissen.
Klara schaut sich um, ob Diti mit dem Wagen kommt.
„Warum hat Mama damals mit dir geschimpft, Klara?“
„Du musst das richtig verstehen!“ sagt sie. „Deine Mutter hatte Angst. Jeder hatte damals Angst. Man durfte kein lautes Wort sagen. Schon gar nicht vor Kindern…“ Und dann, nach einer Weile: „An diesem Tag ist meine Mutter umgekommen.“
„Euer Haus brannte… hast du uns damals erzählt, nicht?“
Klara nimmt den schlafenden Helmut auf den linken Arm.
„Wer hat euer Haus in Brand gesteckt?“
Klara schaut mich bittend an, ich soll sie in Ruhe lassen. Aber sie sieht, es ist zwecklos, ich würde sie noch lange mit Fragen quälen.
„Das war am ersten Tag des Krieges“, sagt Klara mit leiser Stimme, damit Helmut nicht aufwacht und weint. „Mein Schwager war bei der polnischen Eisenbahn. Alle, die bei der polnischen Eisenbahn waren, wurden abgeholt.“
„Von wem?“
„Von wem schon? Von der SS.“
„Das hast du uns nie gesagt!“
„Ihr durftet nichts davon wissen!“
Helmut stöhnt und wirft den Kopf herum.
„Dann haben sie Handgranaten ins Haus geworfen. Es brannte sofort. Meine Schwester und die Kinder kamen gerade noch raus. Meine Mutter blieb drin.“
Jetzt fängt es richtig an zu regnen. Klaras Gesicht ist ganz nass.
„Du hast geschrien und geheult“, sage ich. „Wir wurden aus dem Zimmer geschickt, weil du gar nicht mehr aufhörtest.“
Sie bleibt erschöpft stehen. Es wird immer dunkler, aber im Osten leuchtet der Himmel blutrot.
„Klara… warum durftest du nicht weinen?“
„Ich sagte ja, die Angst…“ Klara wird richtig böse, weil ich nicht kapieren will. „Damals durfte man Kindern nichts erzählen. Sie verrieten einen, ganz unabsichtlich. In der Schule wurdet ihr ausgefragt. Manche Leute sind ins KZ gekommen, weil sie nicht den Mund halten konnten. Ich habe euch zuviel erzählt. ‚Die Klara bringt uns noch in Teufels Küche’, sagte euer Vater immer.“
„Als deine Mutter umkam, wo war Papa damals?“
Ein anderes Bild aus dem Fotoalbum steht mir vor Augen: Papa zu Pferd, in Helm und Uniform reitet er durchs Grüne Tour, an der Spitze seiner Kompanie, die ihm zu Fuß folgt. An allen Gebäuden des Langen Markts wehen Hakenkreuzfahnen. Der Krieg gegen Polen ist noch nicht zu Ende, aber sie machen schon eine Siegesparade. ‚26. September 1939’ stand unter dem Foto.
„Papa hat gegen die Polen gekämpft…“ sage ich und wage den Gedanken nicht auszusprechen.
Klara spürt, was ich sie fragen will. Sie schüttelt den Kopf. „Dort, wo meine Mutter wohnte, hat dein Vater nicht gekämpft“, sagt sie schnell.
„Er hat uns sein Wort gegeben: Nie hat er im Krieg auf einen Menschen geschossen!“
„Nein“, sagt Klara, „er hatte damit nichts zu tun.“
„Wirklich nichts?“ Weil Klara keine Antwort gibt, frage ich: „Haben sie Papa deshalb geholt…?“
Die Straße macht eine Biegung, wir treten aus dem Wald. Sandige Hügel sind von Schützengräben durchzogen, von Granateinschlägen aufgerissen. Zwischen den Hügeln und der Straße liegt ein Gehöft. Als wir näher herangehen, um uns dort unterzustellen, erkennen wir, der Bauernhof ist zerschossen.