Wenn alles in Scherben fällt. Wolfgang Kirchner

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Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner

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„Du hast erzählt, dass ihr winterfeste Baracken für russische Kriegsgefangenen gebaut habt.“

      „Nein, nein“, sagt Großvater, „das musst du verwechselt haben. Meine Leute haben zwar winterfeste Baracken gebaut – aber nicht für Russen!“

      Mama hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, was die Nazis mit ihren Feinden angestellt haben. Sie steckt ein Kommissbrot und eine Flasche Mineralwasser in den Rucksack, denn es geht ja nicht weit, meint sie, Papa und Achim werden nur kurze Zeit fort sein. Obendrauf packt sie frische Wäsche für Papa und eine Decke, und als Achim sich den Rucksack umschnallt, legt sie ihm noch Papas Regenmantel über den Arm. Zum Abschied umarmt sie Achim.

      „Wenn du nicht fliehen kannst, musst du eben für Papa sorgen!“

      „Mama, ich hab solche Angst!“ sagt Achim leise.

      Sie macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. „Hab keine Angst um uns“, tröstet sie ihn. „Diti ist ja da, er wird für uns sorgen. Pass du auf Papa auf!“

      Wir bringen Achim zur Tür. Draußen ist es warm geworden. Ein sonniger Frühlingstag. Brandgeruch liegt in der Luft, ein beißender Dunst, es riecht nach verbranntem Holz, angesengten Kleidern, und obwohl nirgendwo in unserer Umgebung brennende Häuser zu sehen sind, schweben überall grauschwarze Flocken zur Erde herab.

      Auf Mamas Flügel im Salon klimpert ‚unser’ Kommandant herum. Wir hören die Stimmen der Russen im Haus. Sie lachen und singen ihre herrlichen Lieder.

      Als ich in den Luftschutzkeller zurückkomme, packt Frau Duschau hastig die Sachen ihrer Kinder zusammen. „Es brennt in der Nähe, riecht ihr das nicht? Wie schnell kann das Feuer hier sein! Wir müssen raus!“

      „Wohin denn?“ fragt Mama. Aber auch sie fängt an zu packen, und Klara hilft ihr dabei.

      Reglos steht Fräulein Plasse und schaut zu. „Was mache ich bloß mit meinem schweren Koffer?“ Sie blickt Klara an, als ob sie erwartet, dass Klara ihr den Koffer trägt.

      Großvater zankt mit Großmutter um jedes Stück, das sie aus ihren Koffern herausholt, um es in kleinere, leichtere Taschen umzupacken. „Das brauchen wir alles nicht! Wer soll das schleppen?“ Schließlich gibt Großmutter auf. „Lasst uns doch hier!“ stöhnt sie. „Was können die uns alten Leuten tun?“

      Frau Duschau drängt zur Eile. „Wir müssen hier raus, solange es Tag ist. Noch so eine Nacht mit den Russen ertrage ich nicht!“

      Mama holt Rucksäcke mit Wäsche, die sie nach den ersten Bombennächten für jedes von uns Kindern vorbereitet hat. Jeder muss seinen Rucksack umschnallen. Aber wer soll das Essen, die Wasservorräte, die Decken schleppen? Wohin gehen wir überhaupt? Wie lange werden wir unterwegs sein?

      „Diti! Wo ist Diti?“

      „Diti ist mit Achim mitgegangen“, sage ich.

      „Ohne Diti können wir nicht weg!“ erklärt Mama.

      „Gehen wir wenigstens aus dem Keller!“ Frau Duschau wird immer ungeduldiger.

      „Nicht durch die Waschküche!“ ruft Klara. In der Waschküche haben die Russen eine Funkstation eingerichtet – der Raum scheint Funker anzuziehen.

      „Probieren Sie, ob die Tür zum Notausgang aufgeht“, schlägt Frau Duschau vor.

      Vergeblich versucht Klara, den schweren Hebel, der die niedrige eiserne Tür verschließt, herumzulegen. Ich hole ein Beil und schlage auf den Hebel, aber er lockert sich nicht. Die Tür ist nie benutzt worden und der Hebel eingerostet. Einen Augenblick lang haben wir das Gefühl, in der Falle zu sitzen… Da wird der Hebel plötzlich bewegt, quietschend öffnet sich die Eisentür. Diti hat sie von draußen aufgestemmt.

      „Ich hab einen Wagen gefunden!“ ruft er uns aufgeregt entgegen.

      „Was für ein Quatsch!“ schimpft Großvater. „Lass jetzt diese Kindereien!“

      „Ein großer Leiterwagen!“ sagt Diti. „Den haben Flüchtlinge am Straßenrand stehenlassen! Den können wir bestimmt gebrauchen!“

      Erst jetzt fällt ihm auf, dass wir alle unsere Rucksäcke umgeschnallt haben. „Was habt ihr vor?“

      „Wir müssen hier raus“, erklärt ihm Klara.

      „Und zwar schnell!“ fügt Frau Duschau hinzu.

      „Wenn Diti einen Wagen hat…“ ruft Fräulein Plasse und zeigt hilflos auf ihren schweren Koffer. Niemand achtet auf sie.

      „Wir müssen weg!“ schreit Frau Duschau. „Und zwar bevor es überall brennt!“

      Diti zerrt mich durch den Notausgang ins Freie. „Stell dich neben den Leiterwagen und lass ihn dir nicht klauen“, ermahnt er mich streng. „Schrei, wenn einer ihn dir wegnehmen will!“

      Er springt in den Keller und hilft erst den Kindern hinaus, danach den Alten, dann den Frauen. Er trägt Taschen, Decken und Mäntel ins Freie, Eimer voller Gläser, Geschirr, Flaschen, Besteck, ein Bündel Handtücher – zuletzt auch Fräulein Plasses Koffer.

      Als alles sich auf dem hohen, zweirädrigen Karren stapelt, setzt sich ein kleiner Flüchtlingstreck in Bewegung: die Frauen dicht beim Leiterwagen, wir Kinder rings um sie, zu ihrem Schutz. Diti zieht vorn an der Deichsel, ich schiebe hinten. Noch geht es leicht: Der Johannisberg fällt zum Jäschkentaler Weg leicht ab. Doch der Wagen hat sein Gewicht. Noch müssen wir bremsen, aber wie wird es sein, wenn es bergauf geht? Wir fühlen uns schwach vom langen Herumsitzen im Keller, von all den schlaflosen Nächten.

      „Papa und Achim stehen immer noch an der Kreuzung“, rufe ich. Wir können nicht zu ihnen. Ein Flüchtlingsstrom aus der Stadt wälzt sich den Jäschkentaler Weg herauf. Tausende ziehen an uns vorüber. Russische Soldaten mit umgehängten Maschinenpistolen begleiten den Zug.

      „Ganz Danzig brennt!“ rufen die Flüchtlinge uns zu. „Es wird immer noch gekämpft!“

      „Wo wollt ihr hin?“

      „In die Wälder!“

      Manche schieben überladene Kinderwagen vor sich her, andere transportieren ihre Habseligkeiten auf Fahrrädern. Sie erzählen, sie seien schon seit Stunden unterwegs und todmüde. Als einige den Jäschkentaler Weg zu verstopfen drohen, weil sie für einen Augenblick verschnaufen möchten, kommen die Posten, drohen und treiben sie weiter.

      Wir wollen Papa und Achim Auf Wiedersehn sagen. Dazu müssen wir durch den Menschenstrom hindurch. Aber kaum sind wir in die Menge der vorwärts Drängenden eingetaucht, werden wir auch schon mitgerissen. Mama kämpft verbissen gegen den Strom an. Als sie ganz nah bei Papa ist, wird sie von einem der Posten zurückgeschickt. Nur Dorothee schafft es an den Soldaten vorbei. Zwischen den Gefangenen schlängelt sie sich hindurch, springt an Papa hoch und umarmt ihn noch einmal.

      Wo sehen wir uns wieder, Papa…?

      5.

      Nachmittags sind wir losgezogen. Abends fängt es an zu regnen. Es wird kühl. Ende März liegt in Danzig um diese Zeit Schnee.

      „Wir haben Diti verloren!“ Große Angst überkommt

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