Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945. Winfried Wolf

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Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945 - Winfried Wolf

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er doch lediglich Tradition und Moderne miteinander in Einklang zu bringen – niemals aber gibt er Rat „gegen die Zeit“.69

      Seine praktischen Tipps verlangen von ihm, und damit unterscheidet er sich wesentlich vom „normalen“ Erziehungsberater und Psychotherapeuten, mehr oder minder eindeutige Stellungnahmen. Erleichtert wird ihm diese Aufgabe durch eine entsprechende Aufbereitung der für die Veröffentlichung vorgesehenen Leserbriefe. Aus „seitenlangen, ganz speziellen Lebensgeschichten“ muss „die Essenz herausgefiltert“ werden.70 In der Raterteilung muss der Ratgeber dann ein Doppeltes leisten: er übermittelt eine Norm vom „richtigen Verhalten“ und er macht Vorschläge darüber, wie sie zu erfüllen ist.71

      Was ist „richtiges“ Verhalten?

      Woher bezieht er nun seine Vorstellungen vom „richtigen“ Verhalten und wie begründet er seine Raterteilung? Nach Auskunft der Ratgeber durch Verweis auf „pädagogisch-psychologische Erkenntnisse“ und „persönliche Lebenserfahrung“.72 Der Vergleich über mehrere Jahrzehnte hinweg wird zeigen, dass die Gewichtung dabei historisch bedingt ist und dass etwa die „wissenschaftliche“ Begründung die auf Alter und Lebenserfahrung rekurrierende zunehmend zurückgedrängt hat.

      Natürlich versucht jeder Ratgeber, das verlangt sein journalistisches Engagement von ihm, in den Augen seiner Leser „unverwechselbar“ zu sein73, doch kann er bei allem persönlichen Einsatz und aufklärerischem Impetus sowohl die Lesererwartung als auch die Leitlinien seiner Redaktion nicht unberücksichtigt lassen. Und so ist trotz aller möglichen individuellen Unterschiede in der Person des Beraters, trotz persönlicher Vorlieben und Eigenheiten, zu erwarten, dass sich in den Ratgeberrubriken und den einschlägigen Beiträgen zu Erziehungsfragen ein Bild von dem, was in der familiären Sozialisation und Erziehung aktuell „Mode“ ist und gelten soll, wiederspiegelt. Diese Vermutung wird durch die Berater-Befragung gestützt: Zeitschriftenberater sind in d. R. hauptberuflich in der Erziehungs- bzw. Familienberatung tätig und wissen aus ihrer täglichen Praxis „vor Ort“, was den Ratsuchenden „auf den Nägeln brennt“.74

      Und unabhängig von den Leitlinien der Zeitschrift werden sich, über Jahre hinweg beobachtet, Änderungen in den Standards des Verhaltens, wie sie in der Familie von den Eltern an die nachwachsende Generation übermittelt werden sollen, feststellen lassen. Da nun die Kommunikationsinhalte in der Regel stark auf das breite Publikum abgestimmt sind – denn nur solche Inhalte werden sich behaupten, die vom Publikum auch angenommen werden – ist zu vermuten, dass sich in den Beiträgen des „Ratgebers“ zur Erziehung weitgehend die ‚cultural patterns“ seiner Leserschaft wiederspiegeln.75 Diese sog. Reflexionshypothese dürfte allerdings nicht uneingeschränkt gelten, denn sie setzt voraus, dass die ‚cultural patterns’ des Publikums die Kommunikationsinhalte wesentlich beeinflussen. Ein flüchtige Durchsicht der „Ratgeber“-Empfehlungen zur Erziehung vermag jedoch schon deutlich zu machen, dass sowohl die Wünsche bzw. der Geschmack des Publikums berücksichtigt werden als auch „ratgebereigene“ Zielvorstellungen in die Kommunikationsinhalte einfließen. Das ist bei einer Zeitschrift, die erklärtermaßen nicht der bloßen Unterhaltung dienen, sondern in erster Linie informieren und belehren will, auch nicht weiter verwunderlich. Der Reflexionshypothese ist also zumindest eine Kontrollhypothese entgegenzuhalten, wonach umgekehrt auch die Kommunikationsinhalte beim Publikum Veränderungen bewirken oder dies doch wenigstens beabsichtigen. Die Zeitschrifteninhalte sind dann nicht bloße Reflexion der sog. ‚Sitten und Gebräuche des Volkes’, sondern versuchen diese von sich aus zu beeinflussen und zu strukturieren. Da es jedoch nicht Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, Aufschluss über die Erziehungsstandards der Rezipienten des „Ratgebers“ zu erhalten, können wir hier die Frage nach dem Wert oder Unwert dieser beiden Thesen vernachlässigen. Es kann wohl auch in dieser Sache weniger von einem ‚entweder oder’ als eher von einem ‚sowohl als auch’ die Rede sein.

      Gleichgültig ob nun der „Ratgeber“ eher die impliziten Werte und Verhaltensvorschriften seines Publikums spiegelt oder eher selbst determinierend auf seine Leserschaft einwirkt, er und mit ihm die Ratgeberrubriken aller Zeitschriften bieten heute einem breiten Publikum das, was den Anstandsbüchern des 18. Und 19. Jahrhunderts ein Anlegen war: der sich bildenden, lesenden Schicht der Bevölkerung die für allgemein gültig gehaltenen Standards zivilisierten Verhaltens und „guter“ Erziehung zu vermitteln.

      Zur Strukturierung der Raterteilung: Der „Briefkasten“

      Hauptquelle der Untersuchung sind die sog. „Briefkästen“. In ihnen beantwortet ein Psychologe Leserfragen. Sie finden sich im „Ratgeber“ gut platziert in der Heftmitte. Auf zwei bis drei, manchmal vier Seiten werden zumeist ein bis zwei Problemfälle unterschiedlicher Thematik behandelt.

      In geraffter Form wird das anstehende Problem dargestellt: der Erziehungsfachmann/frau versucht im Anschluss daran eine Antwort zu geben. Beide Textteile, die Frage und die Antwort, sind deutlich durch die Verwendung verschiedener Schriftarten und durch die Kennzeichnung wörtlicher Rede voneinander getrennt.

      Die auszugsweise wiedergegebenen Briefe – es fehlen Anrede und Grußformel – sind zu einem lesbaren Text zusammengestellt und vermitteln in der Beschreibung persönlicher und privater Verhältnisse Authentizität und unmittelbare Betroffenheit. Das in Frage stehende Erziehungsproblem wird ohne Umschweife angesprochen: „Überall, wo unsere zwölfjährige Tochter auftritt, in der Schule, zu Hause, unterwegs bei den Besuchen, fällt sie auf. Eine Zeitlang war es ihre Gewohnheit, an den Haaren zu drehen. Dann musste sie sich wochenlang dauernd räuspern oder fortwährend ein Taschentuch in der Hand halten. Gegenwärtig hat sie, wie der Arzt feststellte, einen Blinzel-Tick...“ (10/75/1156).

      Es folgt in der Regel eine Betroffenheitsoffenbarung des Ratsuchenden: „Sie können sich vorstellen, dass uns dieses Verhalten... unangenehm ist.“ (s. o.). Die Eltern, meist die Mutter, schildern dann ihre bisherigen erfolglosen Bemühungen das unerwünschte Verhalten ihres Kindes abzustellen. Der Brief endet häufig mit der Feststellung, dass man nun keinen Rat mehr wisse.

      Die Antwort des Ratgebers beginnt fast ausnahmslos mit einer zusammenfassenden Darstellung des Problems, wobei nicht versäumt wird, Verständnis und Anteilnahme an die Adresse des Briefschreibers zu signalisieren. Die ‚guten Absichten’ des Ratsuchenden werden positiv verstärkt, die bisherigen Bemühungen um Abhilfe entsprechend gewürdigt: „Sie haben, wie Sie mir mitteilen, bisher immer darauf geachtet und verlangt, dass Ihre Tochter sich den Regeln menschlichen Zusammenlebens anpasst. Sie wollen eine sehr gut erzogene Tochter haben, die sie ja auch geworden ist. Sie wird überall für ihr gutes Benehmen gelobt, eine Eigenschaft, die heute bei vielen nicht mehr hoch im Kurs steht...“ (s. o.).

      Einstieg und Ton sind in fast allen Antworten der Berater gleich. Mitarbeiter der Zeitschrift „Eltern“ bezeichnen das „Einstellen auf die Wellenlänge“ des Schreibers als den ersten und wesentlichen Teil der Arbeit eines Zeitschriftenberaters.76 Es komme darauf an, den Ratsuchenden nicht nur rational, sondern vor allem auch emotional zu erreichen.

      Nach der ersten, vorwiegend emotionalen ‚Einstellung’ des Beraters auf die Leserfrage und die Person des Lesers, folgt eine sachlich-psychologische Erklärung des kindlichen Verhaltens: „Jeder Mensch verfolgt bekanntlich eigene Ziel, hat eigene Vorstellungen und auch Wünsche. So stehen Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit vielfach im Vordergrund. Bei der Erziehung werden jedoch die eigenen Triebe meist unterdrückt, was sich besonders in den ersten Lebensjahren ungünstig auf die weitere Entwicklung auswirken kann...“ (10/75/1156).

      Der Berater vermeidet es jedoch die Ursachen des angesprochenen Fehlverhaltens auf bestimmte Umstände einzuschränken77, vielmehr wird oft eine ganze Palette möglicher Gründe angeführt: „Diese Umstände sind aber keineswegs die Ursache für die Nervosität vieler Heranwachsender. Vielmehr spielt hier die Veranlagung eine wesentliche Rolle... So vererben sich zum Beispiel der ‚Appetit’ auf Fingernägel, hastiges

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