Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

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Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring

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Mitternachtsmette – wie gerne ist sie alle Jahre zuvor in diesen Gottesdienst gegangen. Heute würde sie viel lieber zu Hause bleiben. Bestimmt wird sie in der Kirche einschlafen, denn sie ist so müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann.

      Später Abend ist es geworden, als sie die Arbeiten endlich beendet hat. Amalie streut zuletzt noch weißen Sand in die Stube und verbrennt ein paar Tannenzweige im Herd. Das ganze Haus soll von weihnachtlichem Duft durchzogen werden. Das muss sein, sagt sie sich, das gehört dazu. Auch wenn Jendrik meint, es rieche wie in katholischen Kirchen, sie geht sogar mit glimmenden Zweigen von einer Stube in die andere.

      Als das getan ist, wäscht sie sich über der Schüssel und setzt sich auf die Ofenbank, um sich vor dem Kirchgang ein wenig auszuruhen.

      Von weither strömen die Menschen zum mitternächtlichen Gottesdienst in die Stadt. Die Vornehmen und Reichen kommen mit ihren Kutschen oder Schlitten und füllen den Platz vor der Kirche. Sogar in den angrenzenden Straßen stehen ihre Gefährte, und die dampfenden Leiber der Pferde täuschen Wärme und Behaglichkeit vor.

      An einigen Stellen des Platzes brennen Feuer in eisernen Behältern, die von Kutschern und Knechten umlagert sind, wo sie ihre Füße warm stampfen und die Wodkaflasche kreisen lassen und wo sie über ihre Herrschaft herziehen und sich auch schon einmal streiten. Manchmal kommt jemand aus der Kirche, und wenn die Tür sich öffnet, flutet ein Schwall von Licht in die Nacht, der für einen Augenblick alle Straßengeräusche verstummen lässt.

      Sie singen: „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich in seinem höchsten Thron.“

      Über den Kutschern und Knechten an ihren Feuern, über den ergeben wartenden Pferden, brausen die Glocken und wetteifern mit der singenden Gemeinde. Alle sollen es wissen, sie sollen den Jubel draußen auf den Straßen und hinter ihren Wänden hören: dass der Dienst vor dem Herrn getan ist und das Fest hat begonnen.

      Diesem rauschenden Jubel aus Hunderten von Kehlen, dem unrhythmischen Takt der vier Glocken können sich auch die Fuhrknechte nicht entziehen. Trotz der grimmigen Kälte ziehen sie ihre Pelzmützen vom Schädel und singen mit, so gut sie es können. Es sind solche darunter, die durch das Singen und das Glockengetöse, und vor allem durch Erinnerungen, angerührt werden und feuchte Augen bekommen.

      Die Kirche leert sich nur langsam. Jeder will die für das Fest erforderlichen Oblaten haben, die in der Sakristei oder an der Kirchentür gekauft werden können und die zu Hause vor dem Weihnachtsessen untereinander geteilt werden. Darauf umarmen und küssen sich die Menschen, und unter Lachen und mit Tränen in den Augen wünschen sie einander ein gesegnetes Christfest.

      Bei den Erdmanns wird in diesem Jahr das Brechen und Teilen der Oblaten fast widerwillig getan; beide Eltern reichen sie einander ohne die Ergriffenheit und Bewegung, wie es früher gewesen ist. Amalie wirkt abwesend, und manchmal trommelt sie nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, wenn die Kinder laut werden; sie hat es eilig an diesem Abend, die Kinder ins Bett zu bringen. Sonst sitzt man nach dem Festessen lange in der mit frischem weißem Sand ausgestreuten Stube zusammen, in der es nach Gans, nach Bratäpfeln und Tanne riecht. Sogar für die heilige Familie sind Gedecke aufgetragen worden, und diese drei Teller zwingen alle um den Tisch zu einer solchen Feierlichkeit, als säße das heilige Paar mit seinem Kind leibhaftig unter ihnen. Heute Abend stehen nur drei überflüssige Gedecke da, auf die Amalie in Gedanken versunken blickt: ja, zu Hause, bei ihren Eltern, da waren schon einmal Fremde am Tisch gewesen und haben von diesen Gedecken gegessen. In diesem Haus ist das all die Jahre, die sie hier wohnt, noch nie vorgekommen, weil ihre Schwiegermutter bei dieser Feier keine Fremden am Tisch haben wollte. Und das ist auch so geblieben, als die alte Frau gestorben war.

      Nachdem sie das Weihnachtslied ’Lulajze Jezuniu‘ gesungen haben, dürfen die Kinder endlich vom Tisch aufstehen und sich über das hermachen, was ihnen beschert worden ist. Amalie hat, als sie die Führung des Haushalts übernommen hatte darauf bestanden, dass das Weihnachtsmahl und damit der Tag mit diesem schlichten polnischen Lied beendet werde. Die Schwiegermutter hatte sich, so lange sie lebte, durchgesetzt und das deutsche Lied singen lassen: ‚Freuet euch, ihr Christen alle’; seit sie aber begraben ist, singen sie in Erdmanns Haus, obwohl auch Amalie das Polnische ablehnt, ’Lulajze Jezuniu‘.

      Jendrik fällt auf, dass seine Frau nach dem Kirchgang noch stiller geworden ist als vorher, und dass sie ungeduldig mit den Kindern ist und keine Freude zeigt. Ihr scheint der Schwiegervater zu fehlen, sagt er sich. Ja, manchmal sieht sie aus, als hätte sie sogar geweint.

      „Hast du geweint?“ fragt er sie.

      „Nein, weshalb sollte ich weinen? Ich bin nur müde. Nein, es ist nichts.“ Sie schüttelt den Kopf, das genügt ihm, und er lässt sie in Ruhe.

      Nach den Feiertagen werden sie mit allen Kindern nach Lodz fahren, um mit Jendriks Bruder das väterliche Erbe zu besprechen. Wenn Amalie daran denkt, dann legt sich etwas um ihren Hals und würgt sie. Sein Bruder und die Schwägerin verursachen ihr Unbehagen. Bei der Beerdigung des Schwiegervaters hat sie alles daran gesetzt, ihnen nicht zu nahe zu kommen; so ist Amalie entschlossen, nicht zu fahren, sondern mit den kleinen Kindern hier zu bleiben.

      „Hoffentlich ist besseres Wetter, wenn du mit den Großen nach Lodz fährst.“

      „Mit den großen Kindern? Wir sind alle eingeladen“, hat ihr Mann geantwortet.

      „Aber es muss sich jemand um das Vieh kümmern!“

      „Ja. Um Vieh und um Haus wird sich Witold kümmern!“

      „Der Witold? Du willst das alles dem Witold überlassen? Diesem ... Er ist doch noch fast ein Kind!“

      „Mit siebzehn Jahren? Ich weiß, was ich ihm zumuten darf.“

      „Jendrik, außerdem fühle ich mich in letzter Zeit nicht wohl“, wendet die Frau später ein.

      Sie liegt abgewandt und weit weg von ihm im Bett. Obwohl sie den ganzen Tag gearbeitet hat und so vieles bedenken musste – sie kann nicht einschlafen. Der Gedanke an den Besuch bei der Lodzer Verwandtschaft hat alle Müdigkeit verscheucht. Es ist, als hätte sich die Klammer, die sie um den Hals spürte, auch noch um die Brust gelegt.

      Der Mann lässt sich Zeit, ehe er sagt: „Ja, das habe ich bemerkt. Aber die Pflege meines Vaters war für dich auch viel zu ...“

      „Nein, nein, das ist es nicht, Jendrik, nicht das ...“

      „Was ist es dann?“

      In dem Bettchen nebenan werden die Zwillinge unruhig, die sie im Frühjahr geboren hat, und eins von ihnen beginnt zu wimmern. Amalie hat ihm heute den Grund ihres Unwohlseins sagen wollen, aber sie sagte es nicht.

      Sie steht auf und tappt auf bloßen Füßen zu den Kleinen, um sie zu beruhigen. Als sie sich wieder zu Jendrik legt, da ist er schon eingeschlafen.

      Durch den Riss in der Fensterlade scheint der Mond. Oder leuchtet der Schnee in dieser Nacht so hell? Nach und nach bekommen einige Dinge in der dunklen Stube durch das spärliche Licht Konturen oder sie verzerren sich zu Spukgestalten.

      Wenn sie mit der Schwägerin, dieser Antonya, zusammen ist, dann wird der Boden unter ihren Füßen unsicher. Ihr ist, als klaffe ein tiefer, ein unüberbrückbarer Riss zwischen ihr und der Schwägerin. Antonyas Art zu sitzen, plötzlich aufzustehen und etwas in der Stube unter die Lupe zu nehmen, ihre Art zu sprechen – das verunsichert sie. Wenn jene Fragen stellt oder Antwort gibt – deutlicher kann man das Gegenüber nicht klein machen, findet Amalie. Und wie sie mit dem Besteck umgeht! Wenn wir beide zusammen kommen, dann wechseln wir in fremde,

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